Demenz: Las Vegas statt Krankenhaus dpa, 24.07.2017 10:54 Uhr
Für Japan und Deutschland ist es eine der größten Herausforderungen: Die Überalterung der Gesellschaft. Immer mehr Menschen erkranken in beiden Ländern an Demenz. In Japan fordern Experten ein Umdenken. Neue Projekte sollen das Leben der Betroffenen verbessern.
Wenn Motomichi Tomioka morgens aufwacht, denkt der 84 Jahre alte Japaner an Las Vegas. Nicht das Spieler-Paradies im fernen Amerika. Tomiokas Las Vegas ist eine Tagesbetreuungsstätte für Demenz-Patienten und andere pflegebedürftige Alte im japanischen Yokohama – eingerichtet wie ein Kasino. Hier spielen die Senioren bei Baccara und Mahjong um Fantasiegeld und sollen sich so – betreut von Pflegekräften – geistig rege halten.
Ähnlich wie in Deutschland altert auch Japans Gesellschaft, sogar noch schneller. Millionen Menschen sind bereits an Demenz erkrankt, Tendenz steigend. Kreative Ideen wie das Las Vegas lohnen ein Blick auf das fernöstliche Land.
„In herkömmlichen Altentagesstätten in Japan sieht es meist eher deprimierend aus“, erzählt der Betreiber des Las Vegas, Kaoru Mori. Der Japaner arbeitete früher selbst in solchen Einrichtungen – und bekam Mitleid. Manche Demenz-Patienten und andere Senioren empfänden die Betreuungsprogramme dort als eintönig und frustrierend, erzählt er, während im Hintergrund Senioren an lärmenden Automaten spielen. Sie wollten nicht immer nur Papierfiguren falten oder Schablonen ausmalen. Um die Menschen aus ihrer Tristesse herauszuholen, kam Mori nach einem Besuch im amerikanischen Las Vegas auf den Einfall mit der Kasino-Attrappe.
Moris Tagesstätte ist ein ungewöhnlicher Versuch, mit einem Problem umzugehen, das der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt mit rund 126 Millionen Einwohnern zunehmend Kopfschmerzen bereitet: Bereits fünf Millionen Japaner sind an Demenz erkrankt. Das ist ein Anteil an der Bevölkerung über 65 Jahren von rund 15 Prozent. In Deutschland, dessen Bevölkerung ebenfalls schnell altert, leben nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft gegenwärtig 1,6 Millionen Demenzkranke. Der Anteil an den über 65-Jährigen liegt hier bei neun Prozent. Jahr für Jahr erkranken etwa 300.000 Menschen neu.
In Japan wird schon 2025, wenn sieben Millionen Menschen über 75 Jahre alt sein werden, Schätzungen zufolge jeder fünfte Bürger über 65 Jahren Demenz haben. Doch anders als in Deutschland werden in Japan Demenz-Patienten oft in Krankenhäusern untergebracht. „Diese Tendenz muss sich dringend ändern“, fordert Masaki Muto von der International University of Health and Welfare Graduate School in Tokio im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Vor einigen Jahrzehnten seien auch in Deutschland Demenz-Patienten noch als quasi chronisch Kranke oft in Krankenhäusern untergebracht worden, erklärt Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. „Das gibt es heute nicht mehr.“ Heute versuche man, „so viel wie möglich die Menschen und ihre Familien darin zu unterstützen, dass sie möglichst lange zu Hause bleiben können“.
Das wünscht sich Experte Muto auch für sein Land. Zwar hat die Regierung in Tokio vor zwei Jahren eine neue Strategie verkündet, die mehr Unterstützung für Demenz-Patienten und ihre Familien vorsieht. „Aber bisher ist sie wenig wirksam“, beklagt er. Ein großes Problem in Japan sei, dass Menschen, die zu Hause ihre alten Eltern pflegen, oft den Job kündigen müssten. Das Gesetz sehe zwar Pflegeurlaub vor, „aber es wird nicht überall konsequent durchgesetzt“, erklärt Muto. Gerade kleine und mittlere Unternehmen, die das Gros der Arbeitnehmer in Japan beschäftigen, könnten es sich nicht leisten, dass Angestellte Pflegeurlaub nehmen.
Um die Lage der Betroffenen zu verbessern, entstehen in Japan immer wieder kreative Projekte. So richtete ein Fernsehmanager in Tokio kürzlich für drei Tage ein Lokal ein, in dem versuchsweise an Demenz erkrankte Frauen als Kellnerinnen arbeiteten. Das Lokal bekam den Namen „das Restaurant mit Bestellungs-Irrtümern“ – eine amüsante Andeutung, dass die Kellnerinnen auch mal Bestellungen vergessen und etwas anderes servieren könnten. Der Betreiber überlegt laut Medienberichten, das Projekt im Herbst noch einmal aufzulegen.
Nicht ganz unumstritten ist dagegen ein Einfall der Stadtverwaltung von Iruma nahe Tokio: kostenlose, ein Zentimeter große Aufkleber mit einem QR-Code, den Demenz-Patienten auf dem Fingernagel tragen können. Der Code enthalte die Anschrift und Telefonnummer der Ortsverwaltung sowie eine Identifizierungsnummr, die die Stadt vergibt, wie die Verwaltung auf ihrer Internetseite mitteilt. Wahlweise gebe es das auch als Anhänger oder Schuhaufkleber. Hintergrund der Initiative ist, dass in drei Jahren in Japan rund 10.000 Demenz-Patienten vermisst wurden. Sie verirrten sich offenbar.
Diese Sorge hat Las Vegas-Betreiber Mori nicht. „Von den Angehörigen hören wir, dass sich das Fortschreiten der Demenz bei unseren Besuchern verlangsamt“, weiß er zu berichten. Auch der 84-jährige Tomioka kommt zwei Mal pro Woche. Der frühere Elektroniker besucht noch eine andere Betreuungsstätte. „Aber eigentlich mag ich es hier viel lieber“, sagt der Senior strahlend.