„Ich darf nicht krank sein, ich darf nicht ausfallen” Sarah Sonntag, 18.11.2018 07:53 Uhr
Die erste Erkältungswelle macht sich bemerkbar. Vermehrt kommen Menschen mit milden bis starken Erkältungssymptomen in die Apotheke und möchten was dagegen unternehmen. Die Ansprüche sind schnell zusammengefasst: Die Tablette muss sofort wirken, gegen alles gibt es ein Mittel, keiner darf ausfallen, nur die Leistung zählt. Die Notdienstgedanken zum Sonntag.
Laub, Regen, wenig Sonne: Die Erkältungsviren sind wieder im Anmarsch. Die ohnehin suboptimale Personalsituation spitzt sich im Herbst wieder zu. Krankheitsfälle häufen sich, innerhalb des Teams müssen wir flexibel sein und gegebenenfalls einspringen. Man merkt sofort, wenn jemand fehlt, insbesondere im HV. Aber man ist nicht freiwillig krank. Kranksein darf nicht stigmatisiert werden.
Immer wieder erlebe ich, wie sich Kunden zur Arbeit zwingen. Am Dienstag beispielsweise kam ein junger Mann in die Apotheke und fragte nach einem Mittel, um schnell wieder fit zu sein. „Ich bin total angeschlagen und fühle mich schlapp. Mein Kopf ist voll. Ich habe Schnupfen und will eigentlich nur im Bett liegen.” Ach so, und warum tut er das dann nicht?
„Wir haben ein wichtiges Projekt mit unserem Geschäftspartner und setzen uns diese Woche mit ihm zusammen”, erklärte er mir. Er wolle ein Mittel kaufen, das schnell wirksam sei. „Ich darf nicht krank sein, ich muss zur Arbeit!” Nachdem ich nachgefragt hatte, was er sonst noch für Erkrankungen habe und ob er schon was einnehme, sprach ich mich für „Ibu, Nasenspray und Bettruhe” aus.
„Was? Ibu? Das habe ich doch zu Hause! Und Bettruhe kommt gar nicht infrage. Ich darf nicht ausfallen!” Manche Menschen haben einen hohen Leistungsanspruch, der junge Herr war einer von denen. Bedeutet Krankheit für ihn etwa Schwäche? Dürfen nur Frauen krank sein? Ich finde es ja gut, dass man hochmotiviert seiner Arbeit nachgeht, aber Gesundheit geht meiner Meinung nach vor. Abgesehen davon kann man durch dieses Verhalten andere Kollegen anstecken. Wer krank ist, sollte zu Hause bleiben. Man ist doch gar nicht produktiv, wenn man sich dahin schleppt...
„Es gibt doch diese Kombinationsmittel. Geben Sie mir das Beste, was Sie haben”, sagte er. Ich suchte ihm die passende Kombination heraus. „Die Tabletten können bei Ihren Beschwerden eingesetzt werden, haben auch den Effekt, dass sie ,fit’ machen. Aber so sinnvoll ist es eigentlich nicht. Der Körper braucht Ruhe und Zeit zur Regeneration.” Kein Kommentar. Nach fünf Sekunden: „Wie schnell wirkt die Tablette?” Ich unternahm eine kleine Pharmakologie-Reise mit ihm; er war begeistert. „Wie viel kosten sie? Die nehme ich.”
Ich habe letztens gelesen, dass Arbeitsmediziner dieses Phänomen als „Präsentismus” bezeichnen. Dies soll sogar bedeutende negative wirtschaftliche Folgen für die Unternehmen haben. Denn wenn weitere Mitarbeiter angesteckt werden, verzögert sich der Heilungsprozess und damit die Leistungsfähigkeit der kranken Person. Verschiedene Studien würden sogar zeigen, dass der Präsentismus mehr Kosten verursacht, als wenn Mitarbeiter sich zu Hause auskurieren. Zum Glück erwartet mein Chef nicht von uns, dass wir krank zur Arbeit kommen. Von anderen Apotheken weiß ich aber, dass man innerhalb des Teams schief angeschaut wird, wenn man wegen einer Erkältung eine Woche krankgeschrieben ist. Sehr schade, dass dieser überhöhte Leistungsgedanke und Erwartungshaltung auch die Offizin erreicht hat.