Anja Alchemilla steht im HV, beobachtet ihre Kunden und macht sich Gedanken über Ehrlichkeit im Alltag. Ist man nur aus Berechnung höflich und dienen Notlügen ausschließlich dazu, keine Gefühle zu verletzen? Muss man bei freundlichen Pharmavertretern besonders gut aufpassen? Und warum lügen wir eigentlich so viel?
„Papa! Schau mal da, wie dick der Mann da ist! Papa, jetzt schau doch mal hin!” Der Vater des Kleinen beugt sich peinlich berührt zu seinen Filius nach unten. Dessen aufgeregt deutender Zeigefinger sinkt langsam herunter, während sein Erziehungsberechtigter ihm ins Ohr flüstert. Der kräftig gebaute Kunde, der am HV-Tisch steht, dreht sich wieder zu Anja um und beendet sichtlich verärgert seinen Einkauf. Kleine Kinder sind noch so direkt und ehrlich, sie wissen noch nichts von Political Correctness.
Dass erwachsene Menschen sehr häufig lügen, ist ja nichts Neues. Sätze wie: „Dein Kuchen schmeckt wieder herrlich" oder „Nein, man sieht gar nicht dass du zugenommen hast” sind dabei soziale Lügen, die als Beziehungskitt dienen. Auch dass wir den Kunden einen „schönen Tag” wünschen, ist ja eigentlich mehr eine Floskel als eine tatsächlich ernst gemeinte Aussage. Wir lügen in diesem Fall einfach, um gemocht zu werden, damit wir positiv in Erinnerung bleiben.
Anders sieht es wieder mit den Dingen aus, die uns so manche Vertreter aufs Auge drücken möchten. Dabei wird gerne in die Trickkiste gegriffen, die wir Apotheker nur zu gut kennen. Den Namen des Kunden in das Gespräch einzubinden, macht sympathisch und hält das Gegenüber geistig bei der Stange. „Ja, Frau Alchemilla, nun kommen wir zu unseren Neuheiten in dieser Saison!” Und schon ist man wieder ganz Ohr. Oder die verbreitete Lüge, man habe das angepriesene Produkt selbst getestet oder „zufällig" in der Tasche gehabt, als eines der Familienmitglieder es gerade brauchte. Und es hat natürlich wunderbar geholfen. „Ich wusste ja schon, dass es gut wirkt, aber mit diesem durchschlagenden Erfolg hatte ich ehrlich nicht gerechnet!” Da kommt man sich manchmal vor wie bei einem Shoppingsender. Diese Masche ist so durchschaubar und dient nur dazu, sich einen monetären Vorteil zu verschaffen.
Aber es gibt auch genug Unwahrheiten, die uns von den Kunden aufgetischt werden. Wenn wir beispielsweise wieder einmal ein Rezept entgegennehmen, auf dem ein Aut-idem-Kreuz mit Kuli vermerkt ist. Natürlich ohne extra Stempel und Datum und in einer anderen Farbe als die Arztunterschrift. Dann versucht derjenige, sich durch eine Lüge etwas zu erschleichen, und wir werden für zu dumm gehalten, das zu durchschauen. Das ist eigentlich das Ärgerlichste, findet Anja.
Aber sind wir denn besser? Die eine oder andere „Notlüge" haben wir ja auch parat. Zum Beispiel wenn der Verkäufer mit den Teststreifenangeboten am Telefon ist oder die Firma mit den EC-Bonrollen. „Tut mir leid. Frau Kleinert, die bei uns die Einkäufe macht, ist heute nicht da!” Oder wenn Frau Schwierig wieder anruft und ihre Lebensgeschichte erzählen möchte. Dann ist Anja auch immer „gerade bei einer Besprechung". So sind wir doch alle Lügner – für unsere Zwecke.
„Frau Apothekerin! Ich hab da was.” Anja wird jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn der ehrliche kleine Junge steht mit einem Rezept wedelnd vor dem HV-Tisch. Sein Vater schaut immer noch etwas bedröppelt, als Anja ihm die Medikamente in die Tüte packt. Sein Sohn bekommt noch ein Medizini-Heftchen mit auf den Weg, über das er sich sehr freut. Als Anja ihnen noch ein schönes Wochenende wünscht, sagt sie es dieses Mal ganz bewusst und meint es auch so. Diese kindliche Unschuld ist etwas, das sehr schnell verloren geht. Da darf man einfach nicht böse sein, wenn etwas geäußert wird, das wir Erwachsenen nur noch denken.
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