Nachtdienstgedanken

HIV-Diagnose im Nachtdienst Sarah Sonntag, 01.12.2019 08:00 Uhr

Als eine Kundin mit einem positiven HIV-Test vor der Notdienstklappe steht, muss Sarah Sonntag Empathie an den Tag legen. Illustration: Claus Ernst
Berlin - 

Die Woche ist schon wieder vorbei und bei Sarah Sonntag steht der Notdienst im Kalender. Sie ist gespannt, was die kommenden Stunden für sie bereithalten und welche Überraschungen auf sie warten. In der Apotheke ist häufig ein hohes Maß an Empathie gefragt: Dass auch in Sarah eine kleine Seelenklempnerin schlummert, kann sie in diesem Notdienst unter Beweis stellen.

Der Dienst beginnt zunächst recht entspannt. Obwohl es draußen kühl und nass geworden ist, halten sich die erkälteten Kunden an diesem Sonntag wohl eher auf dem Sofa auf, eingewickelt in eine große Decke mit einer Tasse Tee. „Das würde ich jetzt auch gern“, seufzt Sarah und nippt an ihrem Kaffee. Max stimmt ihr zu: „Oh ja, ich würde die Nacht auch lieber in meiner Schublade im Labor verbringen.“ Um sich die Zeit zu versüßen, hat Sarah selbstgebackene Kekse mitgebracht. Falls etwas übrigbleibt, haben die Kollegen morgen noch etwas davon.

Doch spät am Abend wird die bisherige Ruhe beendet – die Notdienstklingel geht: Sarah kämpft sich hoch aus ihrem Sessel und gähnt müde. Bevor sie zur Klappe geht, streckt sie sich ausgiebig und nimmt einen Schluck Kaffee. „Pfui, der ist ja eiskalt“, sagt sie. „Du bist wohl doch eingenickt“, grinst Max. Als Sarah die Klappe öffnet, steht eine aufgelöste junge Frau vor ihr. „Ich weiß nicht was ich tun soll“, sagt sie und weint. Sarah versucht sie zu beruhigen. „Ich kann Ihnen bestimmt helfen. Was haben Sie denn für Beschwerden?“, fragt die Apothekerin behutsam. Die Kundin ist zögerlich und sichtlich verzweifelt. Schließlich holt sie einen kleinen Karton aus ihrer Jacke und reicht ihn Sarah. „Er ist positiv!“, sagt sie und bricht erneut in Tränen aus.

Sarah nimmt den Karton entgegen und sieht, dass es sich um einen HIV-Test handelt – damit hatte Sie nicht gerechnet. Der sonst so wortgewandten Apothekerin bleibt zunächst kurz die Stimme weg. Wie findet man in einer solchen Situation die richtigen Worte? Sarah atmet tief durch und öffnet den Karton. Tatsächlich: Der Test zeigt eindeutig ein positives Ergebnis an. „Was mache ich denn jetzt?“, meint die junge Frau. „Mein Leben ist vorbei!“ Sarah kann nicht anders, als die junge Frau in die Offizin zu bitten. Ein solches Gespräch möchte sie nicht durch eine kleine Notdienstklappe führen. In der Apotheke setzen die beiden sich in die Beratungskabine.

„Beruhigen Sie sich erstmal“, meint Sarah. „So ein Test kann manchmal auch ein falsch positives Ergebnis anzeigen“, erklärt sie. „Wichtig ist, dass sie Ruhe bewahren und morgen bei einem fachkundigen Arzt einen erneuten Test machen lassen.“ Denn jedes positive Ergebnis sollte durch einen weiteren Labortest bestätigt werden. „Ich kann Sie verstehen. Ich würde wahrscheinlich genauso reagieren“, meint Sarah. „Hatten Sie denn einen Risikokontakt in den letzten Wochen?“ Die junge Frau gesteht vor kurzem im Urlaub gewesen und dort intimen Kontakt mit jemandem gehabt zu haben – ein Risiko, das viele junge Frauen unterschätzen.

„Hatten Sie denn die Vermutung, dass etwas passiert sein könnte oder warum haben Sie den Test gemacht?“, fragt Sarah vorsichtig. Die Kundin schüttelt den Kopf und schluchzt: „Nein, aber heute ist doch Welt-Aids-Tag und ich habe so viel Werbung davon gesehen“, meint sie. „Da dachte ich, ich mache so einen Test einfach mal. Ich habe natürlich nicht damit gerechnet, dass der positiv ist.“ „Grundsätzlich ist es gut, dass der Test so früh gemacht wurde – falls das Ergebnis wirklich positiv sein sollte“, erklärt Sarah. Denn je eher die Infektion erkannt wird, desto besser sind die Behandlungsmöglichkeiten. „Mittlerweile gibt es wirklich gute Therapiemöglichkeiten“, erklärt Sarah – auch wenn das kein Trost ist. „Mir gehen so viele Fragen durch den Kopf“, meint die Kundin. Sarah sucht ihr ein bisschen Informationsmaterial zusammen und nennt ihr einige Internetseiten, auf denen sie sich erkundigen kann.

„Kommen Sie doch morgen nach dem Arztbesuch noch mal nach hier“, meint Sarah. Denn ihre Kollegin kennt sich bestens aus was HIV-Infektionen und Aids angeht. Erst vor kurzem hat sie sich weitergebildet. „Egal wie das endgültige Ergebnis ausfällt, wir finden eine Lösung und werden Sie damit nicht allein lassen“, sagt Sarah. Denn auch wenn die Apotheke den Betroffenen die Infektion nicht abnehmen kann, so kann sie wenigstens beratend im Alltag zur Seite stehen und auf diese Weise helfen.