Für den Anfang ersetzt Stoff den Säugling. 30 junge Frauen sitzen in einem Seminarraum. Die eine Hälfte stülpt sich Schals und Jacken unter die Kleidung, die andere befühlt die entstandenen Kugeln. Kichern. „Später stellt Ihr so fest, wie sehr sich die Gebärmutter anspannt“, erklärt Dozentin Bettina Duesmann. Später heißt: Wenn die jungen Frauen statt den Pseudo-Schwangerschaftsbäuchen echte abtasten. Seit dem Wintersemester 2018/2019 sind sie Studentinnen der Hebammenwissenschaft – die ersten an der Universität Tübingen. Und ihre Arbeit ist gefragt, denn bundesweit fehlen Geburtshelfer.
Bisher lernten Hebammen ihr Fach vorrangig in einer dreijährigen Ausbildung. Künftig soll das nur noch über einen dualen Hebammenstudiengang möglich sein, wie sie einige Hochschulen bereits anbieten, verkündet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Mitte Oktober. Damit will er eine EU-Vorgabe umsetzen, die eine Akademisierung der Hebammenausbildung bis 2020 vorschreibt. Deutschland ist das letzte EU-Mitgliedsland, in dem dies noch nicht so ist.
Ein Vollhochschulstudium wie das in Tübingen gibt es nach Angaben des Deutschen Hebammenverbands (DHV) bundesweit noch nicht. Es unterteilt sich in Vorlesungseinheiten und solche beispielsweise im Simulationskreißsaal – Theorie und Praxis sollen so besser verknüpft werden, sagt Duesmann. Nach sieben Semestern winkt der Bachelor.
Josina Gebhard, 20, setzt einige Hoffnungen in das Studium: „Man kann mit abgeschlossenem Studium mehr auf Augenhöhe mit einem Arzt reden. Außerdem können wir später auch in die Forschung gehen.“
Ihre Ziele dürften Dr. Diethelm Wallwiener, Direktor der Tübinger Universitäts-Frauenklinik und kommissarischer Leiter des neuen Studiengangs, gefallen. Seinen Angaben nach will sich die Medizinische Fakultät damit breiter aufstellen und eine internationale Spitzenstellung in der Forschung festigen. „Wir gehen davon aus, dass die Hebammen-Studentinnen nach dreieinhalb Jahren bei uns noch ihren Master machen, eine Doktorarbeit schreiben, sich habilitieren, Spitzenwissenschaftlerinnen werden.“
Von den 122 Bewerberinnen – ein Mann war nicht darunter – bekamen nur die besten Abiturientinnen einen der 30 Studienplätze. Der Numerus clausus lag bei 1,5.
Wallwiener hätte deshalb nichts dagegen, würden die 75 Plätze der Tübinger Hebammenschule, an der parallel zum neuen Studiengang der Beruf erlernt wird, künftig ins akademische System überführt. Ob das bis 2020 tatsächlich gelingt, ist ungewiss. Er glaube nicht, „dass Jens Spahn sich Gedanken gemacht hat, was eine Vollakademisierung bis in zwei Jahren kostet“, sagt der Mediziner.
Denn während an Hebammenschulen Lehrhebammen die Ausbildung übernähmen, dürften vor Studenten nur Akademiker dozieren. Entsprechend mehr Professoren müssten berufen werden. Bezahlen müsste das Land. Wie der Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, Sebastian Gülde, erklärt, wird die Finanzierung der akademischen Hebammenausbildung derzeit in Abstimmung mit den Ländern geprüft.
Unter anderem weil Frauen erst in höherem Alter oder zunehmend mit Begleiterkrankungen Kinder bekommen, wird Wallwiener zufolge die Geburtshilfe komplexer. Akademisierte Hebammen könnten ihren Beruf zudem in allen EU-Mitgliedsstaaten ausüben.
Der DHV beklagt seit Jahren einen Mangel an Hebammen in Deutschland. Zahlreiche der rund 2000 Krankenhäuser arbeiten unrentabel und schließen Abteilungen – auch Geburtsstationen. Der Weg für Schwangere in den Kreißsaal wird länger. Gab es 1991 bundesweit noch 1186 Krankenhäuser mit Geburtshilfe, waren es 2014 nur noch 725. Und auf der „Landkarte der Unterversorgung“ meldeten sich bislang etwa 22.500 Schwangere, die keine Hebamme zur Betreuung fanden.
„Unsere Hebammen sagen teilweise pro Tag 30 Leuten ab, das ist sehr frustrierend“, sagt DHV-Sprecher Robert Manu. Arbeitsbelastung und -verdichtung seien zudem vielerorts an der Tagesordnung. Das schreckt Erstsemesterin Leonie Sinclair nicht. Ihre Mutter arbeitet ebenfalls als Hebamme. „Das ist ein Zwiespalt: Der Beruf ist schön, aber es gibt große Probleme“, erzählt die 23-Jährige und verweist auf die hohen Haftpflichtversicherungssummen, die Beleghebammen aufbringen müssten. Dabei käme ihr eine freiberufliche Arbeit wegen der flexibleren Zeiteinteilung entgegen, da sie selbst bereits ein Kind hat.
Allerdings herrscht auch unter den an Krankenhäusern angestellten Hebammen eine „eklatante Unzufriedenheit“ – zu diesem Fazit kommt jedenfalls eine Studie des DHV aus dem Jahr 2015. Die Teilnehmerinnen gaben demnach an, dass sie viele Überstunden und Arbeiten, die eigentlich nicht zu ihrem Berufsbild zählten, erledigen und zu viele Gebärende gleichzeitig betreuen müssten.
Auch Dozentin Duesmann beschönigt nicht: „Die Arbeitsdichte nimmt sehr zu.“ Dann reicht sie einer der angehenden Hebammenwissenschaftlerinnen einen Säugling. Ihre Kommilitonin, die mit Stethoskop seinen Herzschlag prüfen soll, seufzt: „Man hört nichts.“ Die Gruppe lacht. Es ist ja auch nur eine Übungspuppe.
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