„Meine Mitarbeiterinnen haben Angst“ Julia Germersdorf, 22.01.2023 11:59 Uhr
Die Mitarbeiter der Marien-Apotheke im Münchener Brennpunktviertel rund um das Sendlinger Tor haben seit Jahren so einiges auszuhalten: Drohungen, Gewalt und Vandalismus gehören zur Tagesordnung. Inhaber Thomas Benkert und Apothekenleiter Ingo Beer sind mit ihrem Latein am Ende. Die Stadt hält sich weitestgehend raus.
In unmittelbarer Nähe zur Apotheke, die Beer seit vielen Jahren führt, befindet sich eine Substitutionsambulanz. Diese zieht folglich viele Drogenabhängige in die Umgebung, zu der auch der Nußbaumpark gehört. Von ihren vorherigen Plätzen sind sie verdrängt worden, berichtet Beer. Zum Beispiel vom Bahnhof: Dort ist es seit geraumer Zeit verboten, Alkohol zu trinken oder diesen mit sich zu führen; dies soll zu einem Rückgang alkoholbedingter Straftaten führen. Die Einhaltung des Verbots wird von der Polizei kontrolliert. Nicht so am Sendlinger-Tor-Platz: Hier kam es schon vor der Pandemie immer wieder zu Komplikationen mit Alkoholabhängigen oder Junkies in und vor der Apotheke. Doch mit Corona haben die Probleme ein gewaltiges Ausmaß angenommen.
„Früher konnte man mit ihnen reden“
Vor einigen Jahren hatte die Marien-Apotheke selbst noch Substitutionspatienten versorgt. „Die ausgegebenen Arzneimittel für Take-Home-Verschreibungen wurden manchmal direkt vor der Apotheke vertickt“, so der Apotheker. Auch Spritzen, Kochsalzampullen und Ascorbinsäure wurden früher ausgegeben. Doch inzwischen lehnt Beer dies ab. „Die Situation hat sich zugespitzt“, erzählt der Apotheker. „Die Junkies haben irgendwann Löffel und Feuerzeug verlangt, um sich den nächsten Schuss direkt vor der Apotheke zu setzen. Es ist auch schon vorgekommen, dass Abhängige vor der Tür kollabiert sind.“
Früher habe man ab und zu noch eine halbwegs gute Kommunikationsbasis finden können und mit Abhängigen über Probleme gesprochen. Ihnen zureden können, dass er oder sie einen Entzug macht und auch durchsteht. Inzwischen sei dies nicht mehr möglich: 70 bis 80 Prozent der jungen Leute, schätzt Beer, seien Menschen mit Migrationshintergrund und in Deutschland nicht angekommen, bedauert er. Er selbst ist im Münchener Brennpunkt aufgewachsen, hat mit Einwanderkindern Fußball gespielt und Freundschaften gepflegt. Auch heute noch zählen Türken, Afghanen und Menschen anderer Herkunft zu seinem Freundeskreis. „Das ist überhaupt kein Thema für mich“, betont der Apotheker. Zu den jungen Immigranten vor der Apotheke fehle ihm aber inzwischen leider der Zugang.
Vandalismus: Schaden fast 40.000 Euro
Die abgerundeten Schaufenster sind in das Gebäude so eingesetzt, dass man sich außen hineinsetzen oder etwas darin abstellen kann. Täglich müssen sie mehrmals von Müll befreit werden. Beer berichtet, neben Abfällen auch leere Alkoholflaschen und genutzte Kondome vorzufinden. Innerhalb eines Jahres hat Beer vier eingeschlagene Fensterscheiben erneuern müssen. Der Schaden ist enorm: Pro Scheibe legt der Apotheker locker neun- bis zehntausend Euro aus. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Es ist jedes Mal eine spezielle Anfertigung vom Glaser nötig.
Auf die Erhöhung der Versicherungsbeiträge ist Beer schon gespannt. Am letzten Wochenende sind gleich zwei Scheiben zu Bruch gegangen: In eine Scheibe stürzte am Sonntagnachmittag ein Betrunkener, konnte die Polizei ermitteln. Was mit dem zweiten Schaufenster passiert ist, sei unklar. Die Verursacher konnten bis auf den einen Fall nicht geschnappt werden. „Und wenn schon?!“ Beer ist sauer: „Bei denen ist eh nix zu holen.“ Polizei und Feuerwehr haben laut Beer gute Arbeit geleistet: Die kaputten Fenster wurden schnell notdürftig mit einer Holzplatte geschlossen und versiegelt.
Angst und Panik unter Angestellten
Manchmal muss die Polizei an einem Tag mehrfach wegen Diebstahl, Sachbeschädigung oder gar Körperverletzung in die Apotheke geholt werden. „Es sind hier schon Bierflaschen durch die Offizin geflogen“, teilt Beer mit. „Meine Mitarbeiterinnen werden beleidigt. Es wird gespuckt. Würde nicht die Hygienescheibe auf dem Handverkaufstisch auch für diesen Schutz sorgen, hätten sie schon so manches abbekommen.“ Seine Kolleginnen haben Angst, morgens allein die Apotheke aufzuschließen und abends allein alles zuzumachen. Immer selbst vor Ort kann Beer nicht sein, um seine 20 Mitarbeiterinnen beschützen.
Sie seien seit längerer Zeit ein eingespieltes Team und hielten gut zusammen, aber er habe aufgrund der Problematik auch schon Personalverlust erleben müssen. Und nicht nur das: Auch die Lauf- und Stammkundschaft erscheint nicht mehr so zahlreich wie früher. Diese wichen lieber in ruhigere Gebiete aus, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen.
Dabei ist die Apotheke aufgrund enormer Mietkosten in der bayerischen Landeshauptstadt auf eine hohe Kundenfrequenz angewiesen. Die Lage ist auch nicht ungünstig: Ärztehäuser befinden sich in der Nachbarschaft. Klinikbereiche sind fußläufig zu erreichen. Die Innenstadt und zahlreiche Geschäfte liegen in unmittelbarer Nähe. Ein Standortwechsel steht nicht nur deshalb außer Frage: „Hier wurde einfach ein Haufen Kohle investiert“, so Beer. „Überhaupt besteht die Apotheke bereits seit den 50er Jahren, die Junkies sind erst 15 Jahre da.“
Benkert und Beer haben sich in der Vergangenheit auch schon Gedanken über die Beauftragung eines Security-Unternehmens gemacht. Doch angesichts der exorbitanten Kosten, alleine schon während der Öffnungszeiten, haben die beiden Apotheker diese Möglichkeit des Schutzes wieder fallen gelassen. Gegen die nächtlichen Vandalen würde dies ohnehin nichts nutzen.
Drohungen mit Messer und Axt
Der Apothekenleiter hat in der Vergangenheit auch schon mal eins auf die Nase bekommen: „Ich musste mich fast kloppen.“ Nachdem Beer einen Dieb stellen wollte, schlug dieser zu und zerriss dem Apotheker das Hemd. Drohungen wie „Wir machen dich kalt“ und „Wir warten auf dich“ habe er oft erhalten. Seine Mitarbeiterinnen fordert Beer auf, Diebe laufen zu lassen. Zu groß ist die Sorge, dass den Frauen körperlicher Schaden zugefügt wird. Diebe hätten manchmal ihr Vorhaben sogar angekündigt und mit Messern oder gar Äxten gedroht, diverse Artikel einzustecken. Sollten sie dabei aufgehalten werden, würden sie den Laden kurz und klein hauen. Das Personal ist schlichtweg machtlos. Dies wird dreist ausgenutzt.
„Jetzt ist mal die Stadt am Zug“
Eine Kamera überwacht zwar die umliegenden Straßen, aufgezeichnet wird allerdings nichts. Und dauerhaft besetzt scheinen die Monitore ebenfalls nicht zu sein. Beer fühlt sich von der selbsternannten Weltstadt mit Herz im Stich gelassen und hat kürzlich Tacheles mit der Polizei und dem Kreisverwaltungsrat (KVR) gesprochen: „Meine Mitarbeiterinnen und ich können langsam unseren Beruf nicht mehr ausüben. Ständig muss man aufpassen, dass nichts gestohlen oder zerstört wird.“
Ein Vertrauensbeamter hat sich vor Ort ein Bild über die extremen Probleme gemacht. Seit ein paar Tagen kommen nun jeden Morgen und jeden Nachmittag Polizeibeamte und positionieren sich in unmittelbarer Nähe zur Apotheke. Personenkontrollen werden durchgeführt. Seitdem sei es etwas ruhiger geworden. Bleibt abzuwarten, wie es sich entwickelt. Auf Dauer fürchtet Beer, reicht dies nicht aus.