Frühgeborene Babys profitieren von intensivem Körperkontakt mit ihren Eltern auch noch Jahrzehnte später. Das hat eine Langzeitstudie zur sogenannten Känguru-Methode ergeben, die mit Unterstützung kanadischer Forscher in Kolumbiens Hauptstadt Bogota durchgeführt wurde. Die untergewichtigen Frühchen wurden dabei von ihren Müttern viel auf nackter Haut getragen, gewärmt und gestillt.
Das getestete Programm umfasste aber weit mehr als diese Maßnahme: Die gesamten Familien wurden einbezogen und im Umgang mit den Winzlingen geschult. Kontrollgruppe waren Babys, die in ihren ersten Lebensmonaten auf herkömmliche Weise vor allem im Brutkasten betreut wurden. 18 bis 20 Jahre nach der Geburt wurden die Herangewachsenen drei Tage lang intensiv untersucht und befragt. Insgesamt wurden 264 zwischen 1993 und 1996 geborene Frühchen mit weniger als 1800 Gramm Geburtsgewicht berücksichtigt.
Für die Känguru-Frühchen zeigten sich demnach klare Vorteile: Sie seien zum Beispiel im Mittel weniger aggressiv, impulsiv und hyperaktiv wie solche, die ihre ersten Lebenswochen zumeist im Brutkasten verbrachten, schreiben die Autoren um Nathalie Charpak von der Fundación Canguro in Bogota. Allerdings ist das Ergebnis wegen der vergleichsweise kleinen Zahl berücksichtigter Kinder mit Vorsicht zu bewerten. Unterstützt wurde die Studie vom Förderprogramm Grand Challenges Canada der kanadischen Regierung.
Zu den im Fachjournal „Pediatrics“ veröffentlichten Ergebnissen gehört auch, dass die Sterberate der Känguru-Frühchen merklich niedriger als bei der Kontrollgruppe im Brutkasten. Ihr Gehirn wuchs, speziell in den für das Lernen wichtigen Bereichen, stärker. Vor allem unter den sehr zarten Babys war auch der Intelligenzquotient 20 Jahre später etwas höher. Die Kinder aus dem Känguru-Programm legten eine bessere Schullaufbahn hin und fehlten weniger oft im Unterricht. Als junge Arbeitnehmer verdienten sie im Durchschnitt mehr.
Die Forscher erklären die positiven Folgen auch damit, dass die Eltern der Känguru-Gruppe dank der begleitenden Schulungen besser über die Bedürfnisse von Babys Bescheid wussten und dieses Wissen anhaltend umsetzten. Einen Effekt hatte dies vor allem bei ärmeren Familien mit geringem Bildungsgrad. „Die alltäglichen Aktivitäten zuhause haben langfristig den größten direkten Einfluss auf ein Kind.“
Das Programm habe sich auch auf die Familien insgesamt positiv ausgewirkt: Ihr Zusammenhalt sei besser und die Grundstimmung liebevoller gewesen. Zudem zeigte sich, dass Paare eher zusammengeblieben waren, wenn auch der Vater seinen frühgeborenen Nachwuchs im Tuch herumgetragen hatte.
Jährlich kommen nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit insgesamt etwa 15 Millionen Kinder zu früh – vor der 38. Schwangerschaftswoche - auf die Welt. „Wir sind fest überzeugt, dass diese effiziente, wissenschaftlich basierte Methode in allen Umgebungen angewendet werden kann – von solchen mit sehr beschränktem bis zu solchen mit uneingeschränktem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen“, betont Charpak.
Gerade weil Technik zur Frühgeborenen-Betreuung inzwischen in vielen Regionen der Welt verfügbar sei und es daher weniger schwere gesundheitliche Folgeschäden gebe, komme es darauf an, auf die kleinen Effekte zu achten. „Kleine Auswirkungen wie geringfügige kognitive Defizite, eine schlechtere Feinmotorik, verminderte Hör- oder Sehfähigkeit und Konzentrationsstörungen können unentdeckt bleiben, haben aber tiefgreifende Effekte auf das Leben der Familien.“
Auch in Deutschland ist das „Känguruen“ in Frühgeborenenstationen verbreitet. Nicht nur die winzigen Babys profitieren davon. Die Eltern lernen, mit den zerbrechlich wirkenden Winzlingen umzugehen, Berührungsängste zu überwinden und eine Beziehung aufzubauen. Vor allem Frühchen-Mütter fühlen sich manchmal insgeheim schuldig, weil sie ihr Baby nicht wie erhofft neun Monate austragen konnten.
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