Arzt: „Wir hatten nichts zur Verfügung“ Maria Hendrischke, 29.08.2015 08:58 Uhr
Schlimme Zustände in einem der bekanntesten Erstaufnahmelager Deutschlands: Bislang hat die Bürgerinitiative „Moabit hilft!“ die medizinische Grundversorgung der neu angekommenen Flüchtlinge am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) mit ehrenamtlichen Helfern bestritten. Erst in dieser Woche haben offizielle Stellen übernommen. Doch nach wie vor wird improvisiert.
Vor etwa drei Wochen habe „Moabit hilft!“ die Erstversorgung am LaGeSo übernommen, berichtet Lorenz Meisel. Der frisch approbierte Arzt hatte für die Initiative die ehrenamtlichen Helfer koordiniert, die für die gesundheitliche Betreuung zuständig waren. Täglich kämen mehrere Hundert Flüchtlinge neu an, schätzt Meisel. Sie müssen sich bei der Behörde registrieren lassen, um eine Unterkunft und die notwendige Versorgung zu erhalten und einen Asylantrag stellen zu dürfen.
Lange Schlangen haben sich vor der Registrierungsstelle gebildet. „Inzwischen dauert es bis zu vier Tage, bis die Flüchtlinge offiziell gemeldet sind“, berichtet Meisel. Die noch nicht registrierten Flüchtlinge seien nachts vom Gelände geschickt worden: „Sie müssen dann auf den Straßen schlafen“, sagt er.
Laut Meisel sind die Flüchtlinge nach den oftmals beschwerlichen Reisen aus ihrem Heimatland vollkommen erschöpft. Viele hätten Durchfallkrankheiten, Erkältungen, starke Kopfschmerzen und Fußpilz, weil sie wochenlang ihre Schuhe nicht ausgezogen hätten. „Diese Krankheiten könnten wir in Deutschland eigentlich ohne Weiteres behandeln. Aber wir hatten nichts zur Verfügung“, sagt Meisel. Einige Flüchtlinge hätten auch schwerere Krankheiten und lägen etwa mit einer unbehandelten Diabetes auf dem Gelände. „Sie finden nicht allein zu den Behandlungsräumen“, so Meisel.
Die hygienischen Bedingungen der Erstaufnahmestelle seien mangelhaft: „Es gibt nur einen Trinkbrunnen und dreckige Toiletten.“ Meisel befürchtet, dass sich Epidemien auf dem Gelände und entsprechend auch in Berlin ausbreiten könnten. „In einigen Flüchtlingslagern ist schon die Krätze ausgebrochen“, warnt er. Auch die Bundesärztekammer (BÄK) kritisiert die Umstände in den Flüchtlingslagern und fordert eine bessere Organisation der Gesundheitshilfe von der Politik.
Professionell sei die Versorgung von „Moabit hilft!“ bei weitem nicht gewesen. Doch von offizieller Seite sei lange gar nichts getan worden. „Wir hatten anfangs nicht einmal fließend Wasser und Strom“, kritisiert Meisel. Hundertprozentig korrekte Diagnosen seien kaum denkbar gewesen: Ärzte, Pflegekräfte und Übersetzer hätten ehrenamtlich gearbeitet.
Es sei unmöglich, die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge auf Dauer rein ehrenamtlich durchzuführen, betont Meisel. Schließlich sei es in der vergangenen Woche zu einem Treffen zwischen der Initiative und den Verantwortlichen gekommen. Die Caritas, die Johanniter, das LaGeSo, der Gesundheitssenat und die Ärztekammer würden nun die Grundversorgung gemeinsam organisieren. Ärzte, die helfen wollen, sollten sich direkt beim LaGeSo melden, schreibt die Ärztekammer Berlin auf ihrer Webseite.
Meisel beobachtet die Übernahme durch die offziellen Stellen. Er ist enttäuscht: „Wir hatten stets etwa zwei bis drei Ärzte und einige Pflegekräfte auf dem Gelände“, erklärt er. Am Dienstagmorgen, als sich „Moabit hilft!“ zurückgezogen habe, sei nur ein Arzt von der Ärztekammer erschienen.
Die Johanniter würden nun die ärztliche Versorgung übernehmen; die Caritas werde sich wie bereits in den vergangenen Wochen um Härtefälle wie Schwangere oder Behinderte kümmern, so ein Sprecher der Caritas. Gemeinsam mit „Moabit hilft!“ will der Verband die ehrenamtlichen Helfer koordinieren. Das laufe noch improvisiert ab; dafür seien inzwischen aber von 8 bis 20 Uhr immer zwei hauptamtliche Sozialarbeiter auf dem Gelände.
Die Medikamente, die „Moabit hilft!“ von Spendengeldern in den Apotheken gekauft hatte, dürfen derzeit nicht mehr verwendet werden. Die Vorräte mussten vorerst in den Keller geräumt werden. „Dabei hatten wir aus meiner Sicht einen guten Grundstock an Medikamenten zusammengestellt“, sagt Meisel. Die bislang von der Initiative gepflegte Bedarfsliste wird von der Caritas weitergeführt.
Vom LaGeSo heißt es, dass die medizinische Versorgung auf dem Gelände der Erstaufnahmestelle nach Plan laufe. Die Caritas und die Johanniter seien mit einem Einsatzwagen und einem Arzt vor Ort.
Am Dienstag musste das Amtsgelände wegen einer Bombendrohung kurzfristig geräumt werden. Alle Flüchtlinge auf dem Gelände seien in Notunterkünften untergebracht worden – auch die noch nicht registrierten, so ein Sprecher des LaGeSo. Die Bombendrohung erwies sich als Fehlalarm, verdeutlicht jedoch die Brisanz der Lage.
Die Politik nimmt die prekäre Versorgungssituation zunehmend wahr: Bundespräsident Joachim Gauck besuchte das Erstaufnahmelager im ehemaligen Rathaus von Berlin-Wilmersdorf, um sich ein Bild von den Umständen vor Ort zu machen.