Viele Kitas und Schulen lehnen es aus Haftungsgründen ab, Kindern in ihren Einrichtungen Arzneimittel zu geben. Das Sozialgericht Dresden (SG) hat jetzt jedoch entschieden, dass sie bei Risikogruppen in Notsituationen dazu verpflichtet sind, Medikamente, die keine besondere Fachkenntnis erfordern, zu verabreichen.
Laut SG können Lehrkräfte und Erzieher zwar nicht verpflichtet werden, kranken Schülern während des Aufenthaltes in der Schule regelmäßig Medikamente zu verabreichen. Es könne aber erwartet werden, dass sie Kindern, bei denen es gelegentlich unvorhersehbar zu lebensgefährlichen Zuständen kommen kann – etwa Epilepsiepatienten oder Allergiker – in Notsituationen solche Medikamente geben, die auch von medizinischen Laien angewandt werden können. Dazu seien sie schon auf Grund der allgemeinen Pflicht zur Hilfe bei Notfällen verpflichtet.
Die Mutter eines an Epilepsie erkrankten Mädchens aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hatte sich mit einem Eilantrag an das Gericht gewandt, weil sich die Krankenkasse weigerte, dem Kind während des täglichen Besuchs der Förderschule eine Krankenschwester zur Seite zu stellen. Die vom Gericht befragten Ärzte hatten eine ständige Gefahr lebensbedrohlicher Anfälle verneint. Die Kinderärztin hatte dem Mädchen jedoch ein krampflösendes Mittel verordnet, das im Falle eines epileptischen Anfalls in den Mund gespritzt werden sollte – vermutlich Buccolam (Midazolam, Shire). Die Mutter hatte argumentiert, die Lehrer der Schule seien dazu nicht in der Lage.
Das SG hat den Eilantrag abgelehnt. Nach Auffassung der Richter handelt es sich um ein Mittel, das nicht nur von medizinischen Fachkräften verabreicht werden darf, sondern mit seiner einfachen Bedienung und Dosierung ausdrücklich auch zur Anwendung durch Eltern und Betreuer vorgesehen ist. Dies könne auch Lehrkräften und Erziehern zugemutet werden.
Gerade Förderschulen, an denen viele mehrfach behinderte und erkrankte Kinder unterrichtet werden, müssten sich hierauf einstellen. Die Schulen hätten durch Fortbildungen und Absprachen mit den Eltern bzw. Kinderärzten der betroffenen Kinder dafür zu sorgen, dass die Lehrer und Erzieher in etwaigen Notsituationen ihrer Hilfepflicht nachkommen können.
Eine Zecke ziehen, einen Insektenstich mit einer Salbe behandeln, Nasentropfen vor dem Mittagsschlaf oder ein Desinfektionsspray auf eine kleine Verletzung geben – das müsste doch drin sein, denken viele Eltern. Vor allem Allergien, wie etwa bei einer Erdnuss- oder Hühnereiweiß-Allergie, erfordern in vielen Fällen eine schnelle Reaktion, zumeist in Form von Notfallmedikamenten. Doch viele Krippen und Kindergärten weigern sich aus Angst, bei einem Fehler in Haftung genommen zu werden.
Ein Fall sorgte vor einem Jahr für Aufsehen: In Landsberg bei Halle wies die Stadt als Träger von mehreren Kitas die Erzieherinnen an, in Zukunft keine Medikamente mehr zu verabreichen, auch nicht in einer Notsituation. Wie die Mitteldeutsche Zeitung berichtete, hatte eine Mutter, deren fünfjährige Tochter an einer Hülsenfrucht-Allergie leidet und eine städtische Einrichtung besucht, das Notfallmedikamentenset zusammen mit einem Schreiben der Stadtverwaltung zurückbekommen.
Gemäß einer neuen Satzung würden Arzneimittel ab sofort nicht mehr verabreicht, zitierte die Zeitung aus dem Schreiben. Schließlich seien Erzieher pädagogische und keine medizinischen Fachkräfte. Eine Anwältin habe der Verwaltung mitgeteilt, dass auch im Notfall nur das geleistet werden müsse, was in einer normalen Ersthelferausbildung gelehrt werde. Eine Gabe von Medikamenten gehöre nicht dazu. „Sollte ein Erzieher trotz unseres Hinweises im Notfall ein Notfallmedikament geben und dabei ein Fehler passieren, haftet dieser privatrechtlich“, so die Stadtverwaltung.
Eine bundeseinheitliche Regelung gibt es nicht. Oft lassen die Landesgesetze den Trägern einen Ermessensspielraum. Dazu zwingen, Arzneimittel zu geben oder Zecken zu ziehen, kann man die Erzieher nicht. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass sie das nicht dürften. Nach Auffassung des Spitzenverbandes der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), der die Unfallkassen auf Bundesebene vertritt, die ihrerseits in den Ländern die meisten Tageseinrichtungen versichern, wäre eine Medikamentengabe in Kitas durchaus vom Versicherungsschutz abgedeckt. Damit Missverständnisse vermieden werden und eine klare Handlungsgrundlage für die Kindertageseinrichtung und die pädagogischen Fachkräfte vorliegt, sei es allerdings ratsam, die Art und Weise der Medikamentengabe schriftlich zu vereinbaren.
Selbst wenn ein Erzieher dann das falsche Medikament geben oder das richtige falsch dosieren würde, müsste er für mögliche Folgen meist nicht aufkommen, betont der DGUV. Das wäre ein Arbeitsunfall, der Schaden würde also von den Unfallkassen übernommen. Anders sieht es allerdings aus, wenn ein Erzieher vergisst, ein Medikament zu geben und ein Kind deshalb zu Schaden kommt. In diesem Fall sei nicht ausgeschlossen, dass am Ende der Erzieher haftet.
Auf Anfrage der MZ bestätigte Landsbergs Bürgermeister, Kurt-Jürgen Zander (SPD), dass es eine „derzeit rechtlich ungeklärte Situation bei Notfallmedikamenten“ gibt, und verwies dabei auf fehlende Rechtsauskunft seitens der Aufsichtsbehörden. Trotz Bemühung sei der Stadtverwaltung nicht gelungen, von übergeordneten Stellen eine entsprechende Handreichung zu bekommen. Zander forderte daher eine Entscheidung des zuständigen Ministeriums. Dabei wurde das Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt bereits vor drei Jahren mit folgender Stellungnahme zitiert: „Eine Kindertagesstätte, die ihren Versorgungs- und Betreuungsauftrag und auch die Interessen der Eltern ernst nimmt, wird sich der Gabe von Medikamenten nicht grundsätzlich verweigern.“
Die Mutter wollte jedoch nicht warten, bis sich die Behörden endlich auf eine Linie geeinigt haben, und zog vor Gericht. Sie legte Widerspruch gegen die Entscheidung von Kita und Stadt ein und forderte, dass die Notfallmedikamente solange gegeben werden müssen, bis in der Hauptsache entschieden ist. Laut MZ-Bericht urteilte das Gericht zugunsten der Mutter, so dass die Medikamente bis zur Klärung des restlichen Verfahrens gegeben werden müssen.
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