Eine Metalldose mit Tormentillwurzelstock weckt 2011 die Neugier von Gernot Roth. Der Apotheker aus Steinen in der Nähe von Lörrach hat das verstaubte Gefäß mit der Aufschrift „Erna Hartlieb“ im Keller entdeckt. Der Name sagt ihm nichts, offensichtlich handelt es sich um eine frühere Besitzerin der Apotheke. Roth beginnt zu recherchieren. In den vergangenen fünf Jahren hat er mit viel persönlichem Einsatz die Geschichte der Häfnet-Apotheke rekonstruiert, die vor genau 150 Jahren gegründet wurde. Sie erzählt viel über persönliche Dramen, wirtschaftliche Krisen und schwierige Zeiten.
In der Zeit der Industrialisierung ziehen tausende Menschen vom Land in die Städte, auch in Baden-Württemberg. In Steinen, einer kleinen Gemeinde im Dreiländereck, wächst allerdings die Textilindustrie. Die Arbeiter verlangen nach einer Apotheke. 1866 fällt die Entscheidung: Die „Großherzogliche Sanitäts-Kommission“ erteilt dem Pharmazeuten Karl Staatsmann die Konzession zum Betrieb einer Apotheke. Er nennt sie Wiesentalapotheke.
Mehrfach wechselt die Apotheke nicht nur den Besitzer, sondern auch den Standort im Dorf. 1923 übernimmt Otto Eccard – er ist mit einem posttraumatischen Belastungssymptom aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Zu den persönlichen Schwierigkeiten kommen finanzielle Probleme: Die Inflation erschwert den Betrieb. Eccard ertränkt seine Probleme im Alkohol, was der Gemeinde nicht verborgen bleibt. Der Kriegsveteran wird aber geduldet und nicht aus Amt und Würden enthoben. Erst als er in eine Pflegeanstalt eingeliefert wird, verliert er die Apotheke.
Bis 1937 leitet Eccards Bruder Christian die Geschäfte; anschließend verpachtet er den Betrieb an Julius Schmidt, der äußerst beliebt in Steinen ist. Doch übernehmen kann er die Apotheke nach dem Tod des Inhabers nicht – denn er ist kein Mitglied in der NSDAP. Stattdessen bekommt Wilhelm Michler den Zuschlag; Roth vermutet, dass dessen Nähe zur Parteiführung eine Rolle gespielt hat – nachgewiesen ist das aber nicht. In Neuenburg am Rhein hatte Michler zuvor eine Apotheke besessen, die aber schon 1940 von den Franzosen zerbombt worden war.
Die wirtschaftlichen Probleme nach Kriegsende wirken sich auch auf den Betrieb der Apotheke aus. Im Herbst 1945 stellt Michler einen Antrag auf zeitweilige Schließung wegen „Mangel an Arzneiwaren … und Heizwaren“. Später hofft er, dass sein Sohn die Nachfolge antritt, doch er wird enttäuscht: Der Junior verlässt Steinen in Richtung München. So verpachtet Michler die Apotheke – unter anderem an Erna Hartlieb, die Frau hinter dem Namen auf der Dose.
Als Michler 1967 stirbt, schließt die Wiesentalapotheke. Ihr letzter Pächter, Wolfgang Preuss, fängt mit der Häfnet-Apotheke von vorne an – benannt nach dem geheimnisumwitterten Berg im Ort. Später wird Karl Heinz Kleine der Inhaber, von ihm übernehmen Roth und seine Frau Alexandra nach dem Studium 2003 die Apotheke, zu der seit 2011 auch die Merian-Apotheke im Nachbarort gehört.
Immer dann, wenn sich ein wenig Zeit findet, forscht Roth an der Historie seiner Apotheke. Dann geht er in Archive und Bibliotheken. Kammer und Verband konnten ihm nicht helfen: „Sie haben keine Archive“, berichtet Roth.
Auch die Unterlagen im Gesundheitsamt in Lörrach wurden vernichtet, doch der Apotheker hatte Glück: Das Staatsarchiv in Freiburg hatte die 300-seitige Akte aufbewahrt. Roth vermutet, dass die Dokumente wegen der unzähligen Streitigkeiten um Pächter und Nachfolger archiviert wird.
Die Geschichtsschreibung ist jedoch nicht abgeschlossen: Heute melden sich nach wie vor Familienangehörige der ehemaligen Pächter. Zeitzeugen unterhalten sich mit Roth und überlassen ihm Fotos und Dokumente zur Digitalisierung. Annemarie Taeschner, eine Kollegin aus Lörrach, hilft ihm bei der Recherche.
Roth erinnert sich an einen Tag während des Studiums, als ein Kommilitone ihm ein Plakat der ABDA vorzeigte: „Apotheker – Beruf als Berufung“. Dieses Motto hat er zu seiner Mission gemacht: Er hofft, dass sich die Kollegen wieder mehr mit ihrem Beruf identifizieren. „Schließlich begleiten Apotheker die Menschen das ganze Leben lang.“ Das hat ihn die Geschichtsaufarbeitung besonders vor Augen geführt.
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