Silke Skottky erinnert sich noch gut an den „absoluten Super-Gau“, wie die Laborleiterin der Pathologie am Uniklinikum Essen es nennt. Vor etwa fünf Jahren wurden in der Pathologie zwei Proben verwechselt. Einer jungen Patientin der Hautklinik wurde nach Auswertung ihrer vermeintlichen Befunde mitgeteilt, sie werde bald sterben. Eine etwas ältere Frau erfuhr, die ihr entnommene Probe sei unauffällig. Ursache war ein Zahlendreher – notiert auf der Probe, von Hand.
Bei einer weiteren Untersuchung sei der Irrtum aufgefallen. „Wir haben uns dann für ein komplett neues Konzept entschieden und die Beschriftung von Hand einfach abgeschafft“, erklärt Skottky. Trotz größter Sorgfalt würden Augen und Gehirn ab und zu selbst dem aufmerksamsten Mitarbeiter ein Schnippchen schlagen. Mit der Einführung von Barcodes sei die Fehlerquote gesunken. Die digitale Pathologie macht es möglich.
Doch damit nicht genug: Die Digitalisierung an der Pathologie soll es künftig ermöglichen, Prozesse lückenlos zurückzuverfolgen. An der Klinik sollen ab diesem Jahr entnommene Proben digitalisiert werden. „Wir kriegen oft Anfragen nach Gewebeproben, die vor Jahren entnommen wurden.“ Kommt es etwa Jahre nach einer Krebserkrankung zu einem Rückfall, ist für die Behandlung das Wissen um die Ersterkrankung entscheidend. Dann werden Zettel geschrieben, Archivare tragen Proben durch die Klinik und wieder zurück. „Was da alles schief gehen kann. Allein durch falsch einsortierte Proben“, sagt Skottky.
Sie will nun die Prozesse durch Digitalisierung vereinfachen, Fehlerquellen minimieren. „Wir reden allerdings von 350.000 Gläsern und 220.000 kleinen Transportblöcken pro Jahr.“ Dafür wird ein gigantisches Datenvolumen gebraucht. „Natürlich sind Unikliniken da Vorreiter“, kommentiert Jan Neuhaus, bei der Deutschen Krankenhaus Gesellschaft (DKG) zuständig für IT, Datenaustausch und E-Health. Sie hätten eher die finanziellen Mittel für die Umstellung.
Bei ihrem obersten Chef lief Skottky mit dem Wunsch nach lückenloser Digitalisierung offene Türen ein. Professor Dr. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Uniklinik, hat das Thema „Smart Hospital“ zur Chefsache erklärt. Der „digitale Masterplan“ sieht die Einführung einer elektronischen Patientenakte bis Frühsommer 2018 vor.
Aber auch darüber hinaus sprudelt Werner vor Ideen. Eine davon ist das Tracking, also das elektronische Überwachen von Patienten – etwa mit Hilfe eines Aufklebers. „Wir könnten sofort am PC sehen, wenn ein Patient beispielsweise zu lange vor einem Operationsraum warten muss.“ Oder es könnte zeigen, wenn sich ein Patient nach einer Hüft-Operation zu wenig bewege. Der Arzt könnte ihn dann motivieren, mehr spazieren zu gehen und so den Heilungsprozess beschleunigen.
In der Kardiologie will Werner ein solches Pilotprojekt 2018 angehen. „Nur für Freiwillige“, versichert er, denn das Thema ist mit Hinblick auf den Datenschutz nicht unumstritten. Gerade für Prozessanalysen könnten sich aus solchen Aufzeichnungen aber wichtige Informationen ergeben, lobt Neuhaus die Klinik. Bislang würden in anderen Projekten lediglich die Betten mit einem Barcode versehen, um mit einem Scanner zu prüfen, ob das richtige Bett vor dem Operationssaal steht.
Dr. Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht an der Universität Gießen und Mitglied im Ethikrat, sieht in der elektronischen Überwachung der Patienten erst einmal kein Problem. „Das ist rechtlich mit Sicherheit über eine Einwilligungslösung durch den Patienten machbar.“ Schwieriger werde es, wenn der Überblick über die in Umlauf befindlichen Daten schwinde. „Es ist ein massives Problem, dass die Verwendung der Daten in der Zukunft noch völlig offen ist.“
„Daten-Souveränität“ ist für ihn das Schlüsselwort. „So banal es klingt, wir müssen über einen souveränen Umgang mit Daten aufklären.“ In Schulen, Betrieben und Universitäten müsse es mehr Aufklärung geben. „Es ist schon bedenklich, was an personenbezogenen Daten im Umlauf ist.“ Generell sieht Augsberg auch beim Gesetzgeber eine grundsätzliche Bereitschaft zur Nachbesserung im Datenschutz.
DKG-Experte Neuhaus spricht von „Digitalisierungsdruck“. Die Kommunikation habe sich verändert, und die Menschen würden diese Veränderungen in die Krankenhäuser bringen. So stelle der Wunsch, seine Daten elektronisch mitzunehmen, Kliniken vor neue Herausforderungen. Es gebe kaum noch Häuser, die keine medizinischen Daten speichern würden, sagt Neuhaus. Allein für die Abrechnung sei das elementar. Allerdings würden nur wenige Krankenhäuser jeden Pulswert und jede Medikamentengabe digital aufzeichnen, so wie der Plan des Essener Klinikums das vorsieht.
Neuhaus spricht sich allerdings gegen Einzellösungen aus. „Wir haben uns kaputt geinselt.“ Es helfe nicht, wenn jede Klinik ihre eigenen Patientenakte in digitaler Form habe. Gerade bei Krebserkrankungen würden Patienten verschiedene Spezialisten an verschiedenen Häusern aufsuchen. Daher sei das Ziel eine elektronische Akte, die auf Wunsch der Patienten überall verfügbar sei.
Klinikchef Werner sieht unendliche Chancen – auch für neue Berufe. „Ärzte müssen komplett umdenken. Es geht um mehr als um Diagnosestellung, Therapie und ein Nach-Hause-Schicken.“ Die Erhebung zahlloser Gesundheitsdaten ermögliche eine neue Forschung im Hinblick auf Prävention und Rehabilitation. So könnten erhobene Fitness-Daten möglicherweise wertvolle Hinweise darauf geben, ob, wann und wie sich Herzprobleme frühzeitig ankündigen. Werner bemängelt, bislang würden erhobene Daten zwar gesammelt, aber nicht ausreichend ausgewertet.
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