Ruhestand mit 73

„Die Kollegen wollen auch ihr Auskommen haben“

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Berlin -

Stolze 50 Jahre stand Hans-Jürgen Hulsch in der Offizin im sachsen-anhaltinischen Aschersleben. Der Dienst am Patienten habe ihn immer viel Freude gemacht. Doch mit 73 sei es Zeit zu gehen, bevor „ich nur noch für Essen und Trinken arbeite“.

Der Abschied von den Kunden fiel ungeahnt schwer. Viele von ihnen kennt Hulsch bereits, seit er 1982 das Zepter in der Apotheke übernahm. Am 31. August gaben sie sich die Klinke in die Hand. „Da haben wir schon einige Taschentücher verbraucht“, bekennt Hulsch. „Wir hätten nie gedacht, dass das so emotional wird.“

Das Datum für die Schließung wählte er mit Bedacht: Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 1. September 1968, begann seine Ascherslebener Pharmazeutenkarriere als Angestellter der Krügerschen Apotheke. „Dank Vererbung war sie einer der wenigen privat geführten Betriebe der DDR“, erzählt er. „14 Jahre später ging die Leiterin der staatlichen Linden-Apotheke wie damals üblich mit 60 Jahren in Rente.“ Hulsch übernahm die Nachfolge und blieb. Immer zur seiner Seite stand ihm seine Frau Gitta, eine Apothekenfacharbeiterin, die noch zu DDR-Zeiten eine wissenschaftliche Qualifizierung zur pharmazeutischen Assistentin absolvierte. Die Ascherslebener Apotheken waren damals in einem „Pharmazeutischen Zentrum“ zusammengefasst. Jede einzelne von ihnen hatte ihr Spezialgebiet. „Die Linden-Apotheke stellte Salben für den gesamten Kreis her“, erinnert sich Hulsch. „Zweieinhalb Tonnen kamen da im Jahr zusammen.“

Mit der Vereinigung 1990 änderten sich die Marktverhältnisse schlagartig. Mit jetzt 46 Jahren stellte sich der einstige staatliche Angestellte den Herausforderungen einer privaten Selbstständigkeit. Er kaufte die Apotheke von der Treuhand und das Haus von der Stadt. „Auch die anderen Apotheken wurden nach und nach privatisiert und fertigten fortan ihre eigenen Rezepturen nach den individuellen Patientenbedürfnissen an.“ Der neue Besitzer baute aufwändig um. Die Offizin wurde großzügig und barrierefrei erweitert. Die Salbenproduktion verwandelte sich in eine Wohnung, hier zogen die Hulschens ein. Im Mai 1992 feierte das Ehepaar die Neueröffnung.

Die Arbeit am Patienten habe ihm über die vielen Jahre immer viel Freude gemacht. „Man muss man dafür eine Ader haben. Gerne stand ich von 8 Uhr morgens bis 18 Uhr abends in der Apotheke.“ Dabei übernahm er häufig die Rolle eines Vermittlers zu den Ärzten. „Beim Doktor waren die Patienten so aufgeregt, dass sie sich gar nicht zu fragen trauten, was ihnen da verschrieben wurde“, erzählt Hulsch. „Erst bei uns ließen sie sich ihre Medikamente genau erklären.“ Viele seiner Freunde, die nach und nach in den Ruhestand gegangen seien, hätten ihn immer wieder gefragt, wann er denn ihrem Beispiel folge. „Wenn man einen Beruf hat, der Spaß macht, sollte man so lange arbeiten, wie die Kräfte es zulassen.“

Doch gerade in den letzten Jahren machten ihm die stetig zunehmenden Regularien zu schaffen. Vor allem an den Rabattverträgen störte sich der erfahrene Apotheker: „Ich finde es finster hoch drei, dass die Krankenkassen den Patienten wegen ein paar Prozent Ersparnis vorschreiben wollen, was sie einzunehmen haben. Und dann werden die Verträge alle paar Monate revidiert.“ Vor allem den Älteren sei es schwer zu vermitteln gewesen, warum sich das Aussehen der Tabletten und der dazu gehörigen Packung schon wieder geändert hatte und das neue Mittel nicht mehr so gut wirkte wie das vorherige. Anderen Trends konnte sich Hulsch dagegen verweigern. „Jedes Frühjahr wurde ein neues Schlankheitsmittel durchs Dorf gejagt, aber nicht mit mir“, sagt Hulsch. „Auch mit vermeintlichen Wundermitteln aus der Homöopathie hatte ich nichts am Hut.“

Der Versandhandel habe ihm dagegen wenig zugesetzt. „Vielleicht zehn Leute haben uns erzählt, dass sie dort mal Schmerzmittel bestellt haben, aber die wenigen kamen schnell wieder zu uns zurück“, berichtet der Apotheker. „Sie störten sich unter anderem daran, ständig zu Hause sein zu müssen, um das Paket entgegen zu nehmen.“ Doch der Markt für die Apotheken wurde mit der Zeit immer enger. „Ich nahm mir vor, Schluss zu machen, wenn ich nur noch für Essen und Trinken arbeite.“ Seinen Angestellten gab er frühzeitig Bescheid, alle seien mittlerweile untergekommen. Einen Nachfolger habe er gar nicht erst gesucht. „Jetzt verbleiben noch acht Apotheken in Aschersleben, meine Kollegen wollen auch ihr Auskommen haben.“

In seiner Laufbahn habe er viel erlebt. „Ich könnte ganze Bücher schreiben“, sagt Hulsch. So wurden Jahre vor dem Fall der Mauer Ost und West 1981 bereits in einer Läuseplage zwangsvereinigt. „So etwas gab es bei uns früher nie. Mit Genehmigung der Behörde lagerten wir zwei 40-Liter-Ballons mit Läusemittel ein und füllten sie für die Patienten in 100-ml-Fläschchen ab.“ Als Lösungsmittel sei damals noch Benzin zum Einsatz gekommen. „In vielen Wohnungen hing ein Durchlauferhitzer im Bad. Manche, die ihre Haare mit dem Shampoo behandelten und dann auswaschen wollten, mussten sich plötzlichen Stichflammen erwehren.“ Erst später sei das Benzin durch das weniger feuergefährliche Isopropanol ersetzt worden.

Nach der Schließung kommt er von der Apotheke noch nicht los. Derzeit ist er noch vollauf mit der Abwicklung beschäftigt. „Ich bereite gerade die Medikamente für einen Rückkauf vor, dafür muss ich alle Packungen einzeln nach PZN, Verfalldatum und Einkaufspreis erfassen“, erläutert Hulsch. „Was mir der Großhandel nicht abnimmt, muss ich als Verlust abschreiben.“ Die Einrichtung werde wohl auf dem Schrottplatz landen. „Ich habe versucht, mehreren Architekten meine Schubladenschränke schmackhaft zu machen, leider ohne Erfolg.“

Für die bald einbrechende unverhoffte Freizeit hat sich das Ehepaar Hulsch schon eine Menge vorgenommen. Sportliche Ertüchtigung steht ganz oben auf der Prioritätenliste. Ein ganzer Stapel Bücher warten ebenso auf den 73-Jährigen wie Freundschaften, die intensiver gepflegt werden wollen. „Wir wollen auch durch Deutschland reisen“, sagt Hulsch. „Endlich haben wir Zeit für Gegenden, die ein bisschen weiter entfernt liegen.“ Bange, dass seine Frau und er sich in der jetzt vielen freien Zeit auf die Nerven gehen könnten, sei ihm nicht. „Wir haben so viele Jahre rund um die Uhr miteinander verbracht, daheim und auf der Arbeit. Wenn die Apotheke erst mal ausgeräumt ist, ist das Haus groß genug, dass wir uns im Notfall aus dem Weg gehen können.“

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