Um ihre Ohren machen sich die meisten Menschen niemals Gedanken. Sie funktionieren – und tun sie das nicht, muss eben ein Hörgerät her. Zwei Autoren haben ein Buch geschrieben, in dem alles über unser Gehör nachzulesen ist. Leider gibt es noch kein Hörbuch.
Das Gehör gehört zu den Diven des menschlichen Körpers. Verwenden wir unsachgemäß ein Wattestäbchen, schimpfen die Experten. Das Ohrenschmalz und das Trommelfell befinden sich in höchster Gefahr, am besten, man lässt die Ohren brav in Ruhe. Kümmern wir uns aber gar nicht darum, ist es langfristig betrachtet auch nicht gut – am Ende drohen Schwerhörigkeit und möglicherweise Demenz. Oder Krankheiten, deren Namen wir noch nie gehört haben.
Thomas Sünder, Co-Autor von „Ganz Ohr“ (Verlag Goldmann, 380 Seiten, 14 Euro) hat das erlebt. Als DJ legte er auf mehr als 500 Hochzeiten auf, bis eines Tages ein Hörsturz seiner musikalischen Karriere ein abruptes Ende setzte. Aufgrund von Schwindelattacken musste er 2016 seinen Beruf an den Nagel hängen. Die Diagnose Morbus Menière sagte ihm nichts, von der Krankheit hatte er niemals zuvor gehört.
Also kontaktierte er seinen Freund Dr. Andreas Borta, der ist Arzt und arbeitet in der klinischen Forschung von Boehringer. Er konnte ihm erklären, welch schlechte Nachricht er im Krankenhaus erhalten hatte. Morbus Menière ist eine Erkrankung des Innenohres, die mit Schwindel, Hörverlust und Phantomgeräuschen einhergeht. Die Krankheit ist unheilbar, Patienten können jedoch lernen, damit zu leben und die Auswirkungen zu verringern, besonders wichtig ist dabei die Vermeidung von Stress.
Die vielen Fragen, die nach der Diagnose auftauchten, inspirierten die beiden, das Buch zu schreiben. Es scheint nach den Erfolgen von „Haut nah – alles über unser größtes Organ“ oder „Darm mit Charme“ eine Leserschaft für Bücher dieser Art zu geben, die sich fragen, wie ihr Körper eigentlich so funktioniert. Und auch der Welttag des Hörens am 3. März ist ein guter Anlass, sich einmal mit den eigenen Ohren zu beschäftigen. Nach der Lektüre des Buches „Ganz Ohr“ bleiben wirklich keine Fragen offen. So erfährt man zum Beispiel, dass das lauteste Geräusch, das Menschenohren jemals vernommen haben, der Ausbruch des Vulkans Krakatau am 27. August 1883 war. „Er explodierte mit einer Wucht, die zehntausendmal stärker war als die Atombombe von Hiroshima. Wissenschaftler haben errechnet, dass die Detonation unglaubliche 235 Dezibel erreicht haben muss. Sie wurde noch fast 5000 Kilometer entfernt gehört und die Druckwelle war so stark, dass sie sechsmal die Erde umrundete“, schreiben die Autoren.
Schwerhörigkeit ist längst nicht mehr eine Krankheit der Senioren, sie ist eine der verbreitetsten Zivilisationskrankheiten, jeder Dritte über 50 ist betroffen, darunter auch viele jüngere Menschen. „Wir gehen relativ achtlos mit unserem Gehör um“, sagt Borta gegenüber APOTHEKE ADHOC. „Heute ist die Welt lauter als je zuvor, die Ohren hatten allerdings evolutionär keine Chance, sich darauf einzustellen. Die Menschen gehen schneller zum Arzt wenn sie Sehstörungen als wenn sie Hörstörungen haben. Dabei leben wir in einer Umgebung, die lauter ist als je zuvor.“
Eine Studie der Johns Hopkins Universität in Baltimore legt nahe, dass Senioren mit Hörverlust mit höherer Wahrscheinlichkeit an Demenz erkranken werden als solche, die normal hören können. Das genaue Zusammenwirken von Demenz und Hörverlust wird derzeit noch erforscht, die Wissenschaftler vermuten, dass die Anstrengungen, die das Gehirn unternehmen muss, um den Hörverlust auszugleichen, sehr hoch sind. Dadurch werden möglicherweise andere Hirnfunktionen vernachlässigt, Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz gleichzeitig begünstigt.
„Es ist derzeit Gegenstand intensiver Forschung, wie Hörgeräte den geistigen Verfall aufhalten können“, erklärt Borta. Bei Boehringer laufen zwei große Forschungsprojekte. „Wir wollen versuchen, mit Hilfe von Medikamenten die Informationsverarbeitung zu verbessern, arbeiten an Medikamenten, die an bestimmten Schaltstelle im Gehirn ansetzen. Die Medikamente sollen nicht das Hören, sondern das Verstehen verbessern. Die erste Studie ist gemacht, wir warten auf die Ergebnisse.“ Das zweite Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Regeneration von Haarzellen. „Wir haben eine Forschungszusammenarbeit mit Partnern in China. Im Moment kann man den Patienten diesbezüglich aber noch keine Hoffnung machen, ein Medikament wird nicht in absehbarer Zeit auf den Markt kommen.“
Ein Frühwarnzeichen dafür, dass mit den Ohren etwas nicht stimmt, haben viele schon erlebt: Man sitzt mit Kollegen in der Kantine oder mit Freunden im Restaurant und versteht plötzlich nicht mehr, was die anderen sagen. „Das ist ein Zeichen dafür, dass die Belastung, die ich meinem Gehirn zumute, höher ist als normal“, erklärt der Mediziner. „Unser Gehirn ist extrem clever und gut gebaut, es kann den Gehörverlust ausgleichen.“ Lange Zeit verzeihen Gehör und Gehirn ihrem Besitzer Leichtsinnigkeit. Die Langzeitauswirkungen dieser Sorglosigkeit sollte man allerdings nicht unterschätzen: Anders als zum Beispiel die Haut kann das Gehör einmal zerstörte Haar- und Nervenzellen nicht wieder erneuern. Was kaputt ist, bleibt kaputt.
Deshalb macht es Sinn, sein Gehör immer so gut wie möglich zu schützen. „Man sollte laute Umgebungen meiden. Früher habe ich zum Beispiel Löcher in die Wand einfach so gebohrt, heute mache ich das nur mit Gehörschutz“, erklärt Borta. Und Ohrstöpsel hat er immer dabei, zum Beispiel wenn er Zug fährt. Gut findet er, dass Hörgeräte mittlerweile ihren Schrecken verloren haben. „Jeder kennt die beigefarbenen Riesenteile.“ Das aber sei Schnee von gestern. „Heutzutage sind Hörgeräte kleine Hochleistungscomputer. Es gibt in Deutschland 13 Millionen hörgeschädigte Menschen, aber nur rund drei Millionen tragen ein Hörgerät.“
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