Vieles im Leben stellt sich auf den ersten Blick anders dar, als es in Wirklichkeit ist. Ein Blick hinter die Kulissen gibt einem oft mehr Klarheit. Auch Anja Alchemilla wird feststellen, dass sie in ihrem Urteil manchmal zu schnell ist. Wer in der Apotheke arbeitet, dem bleibt jedenfalls nichts Menschliches fremd.
Anja steht im HV und müht sich redlich ab, einer polnischen Pflegekraft die deutschen Lieferausschlüsse zu erklären. Diese möchte für den Herren, den sie betreut, Pants aus der Apotheke mitnehmen, hat aber weder Geld noch ein Rezept in der Tasche. Der Patient ist zwar seit vielen Jahren Stammkunde der Filiale, doch ist er bei der DAK versichert. Anja ist aus diesem Grunde nicht lieferberechtigt.
Die Dame steht vor dem HV und besteht trotz aller Erklärungsversuche energisch auf ihrer Bestellung. „Brauche ich Pampers jetzt sofort. Ist geliefert falsch. Ganze Wohnung voll falscher Pampers! Mann braucht jetzt, nicht morgen! Sie holen falsche Pampers ab und dann tauschen in richtige.“
Anja versteht das Problem durchaus, doch sind ihr die Hände gebunden. „Hören sie: Ich kann wirklich keine Pants zurücknehmen, die wir nicht geliefert haben. Ein Umtausch ist da nicht möglich. Bis sie das mit dem Lieferanten geklärt haben, der sie ihnen gebracht hat, kann ich ihnen aber natürlich eine kleine Packung verkaufen.“ Die Dame scheint es einzusehen: „Gut. Hier ist Pampers, die ich brauche. Ist aber Letzte, die ich habe! Brauche schnell zurück.“ Die Frau legt eine einzelne ausgepackte Windelhose einer unbekannten Marke vor Anja hin. Diese seufzt innerlich, nimmt aber die Herausforderung an. „Wir machen das am besten so: Sie gehen nach Hause, wir klären, was das für eine Größe ist, und bringen Ihnen heute Nachmittag eine Packung vorbei. Pampers sind das allerdings nicht, das sind ,Pants'. Pampers sind für Babys und wir haben es ja hier mit einem erwachsenen Mann zu tun, nicht wahr?“
Anja empfindet den Ausdruck „Pampers“ immer wieder entwürdigend. Sie kennt den Kunden seit vielen Jahren und weiß genau, dass er sich vor seinem Schlaganfall für eine Situation wie diese geschämt hätte. Die Pflegerin ist nicht gekränkt, nimmt Anja aber auch nicht ernst. Sie lacht, winkt ab und entgegnet: „Machen wir so. Ich immer sage ,Pampers'. Jeder weiß, was ich meine dann.“ Die Dame verlässt die Apotheke und die Arbeit geht damit für das Apothekenteam erst richtig los. Anja schimpft im Backoffice über die ganze Situation. Sie ist aber auch durch die forsche Art der Pflegerin und ihren respektlosen Sprachgebrauch aufgebracht. „Wer weiß, wie die mit Herrn Maier umgeht, wenn sie sich schon hier so aufführt! Der arme Mann!“
PTA Sonja nimmt sich der Sache an, und vergleicht die zurückgelassene Windelhose ohne Firmenaufdruck mit Hilfe der Bildersuche im Internet. Nach 15 Minuten wird sie fündig und hat immerhin den Hersteller herausgefunden. Sie misst den Umfang der Pants, um die richtige Größe herauszufinden, und bestellt die kleinste Packungsgröße über den Großhändler. Am Nachmittag wird sie geliefert, und Sonja macht sich gleich auf den Weg zum Kunden.
Die Pflegerin öffnet die Türe und Sonja sieht das Dilemma auf den ersten Blick. Herr Maier ist seit dem Schlaganfall gesundheitlich schwer beeinträchtigt, ob er überhaupt noch irgendetwas vom Leben um ihn herum mitbekommt, ist fraglich. In seiner kleinen Wohnung stehen Flur und Schlafzimmer voller Kisten mit Inkontinenzbedarf. Die Polin zuckt mit den Schultern: „Tut mir leid, dass ist so vollgestellt alles. Wird immer alles auf einmal für Vierteljahr geliefert. Weiß nicht, wohin damit. Haben keinen Keller hier. Komm rein!“ Freundlich bedeutet sie Sonja, dass sie eintreten soll.
Die PTA erklärt der Dame nochmals in Ruhe das Problem mit der Inkontinenzversorgung und grüßt den Patienten, der sie im Bett liegend teilnahmslos anstarrt. „Ich kenne ihn noch sehr gut aus der Zeit vor dem Schlaganfall. Bekommt er noch etwas mit?“ Die Pflegerin wiegt den Kopf. „Ich weiß nicht, aber ich sage ja. Wenn ich spiele Klavier für ihn, er lacht.“ Sonja blickt sie erstaunt an. „Sie spielen für ihn? Das ist ja schön. Er hat immer erzählt, dass er früher gerne selbst in die Tasten gegriffen hat.“ Die Polin lächelt: „Ja. Hab ich geschaut in Internet, was waren große Hits, wenn er war jung. In Polen ich war Musiklehrerin. So ist nicht immer so still hier. Aber jetzt alle Kartons stehen vor Klavier, weil Männer immer da abstellen. Sind schwer. Ich muss warten vier Wochen, dann wieder Platz für Musik hier.“
„Soll ich Ihnen schnell helfen und wir tragen die Kartons woanders hin?“, bietet Sonja an. Doch die Pflegerin winkt ab. „Danke, aber lohnt nicht mehr. Sind ja falsch. Werden morgen abgeholt und getauscht.“ Die PTA lächelt. „Egal. Dann kann er wenigstens noch einen Tag lang Klaviermusik hören, bevor er wieder vier Wochen Stille hat.“ Gemeinsam packen die beiden Frauen an und schaffen die Kisten ins Wohnzimmer.
Sonja verabschiedet sich danach und kehrt in die Apotheke zurück. Sie muss Anja unbedingt erzählen, dass die Pflegerin sich wirklich gut kümmert. Obwohl sie so fordernd erschien und „Pampers“ sagt, behandelt sie Herrn Maier mit viel Respekt und Zuwendung. So urteilt man vielleicht oft zu schnell, wenn man nicht hinter die Kulissen geblickt hat.
APOTHEKE ADHOC Debatte