Bundeswehr-Apotheker: Abschied von Afghanistan Elliot Zehms, 19.08.2021 15:31 Uhr
Der Macherner Apotheker Hartmut Berge gehörte zu den ersten deutschen Soldat:innen, die vor 20 Jahren in Afghanistan eintrafen. Siebenmal war er seitdem am Hindukusch stationiert. Bei seinen mitunter gefährlichen Auslandseinsätzen sah er viel Leid – doch auch sein Kinderbuch „Finjas fantastische Reise“ entstand während dieser Zeit. Mit größter Sorge und Angst um die afghanischen Ortskräfte blickt er derzeit auf die erschütternden Ereignisse in Kabul und dem ganzen Land.
33 Jahre lang war Apotheker Hartmut Berge Berufssoldat bei der Bundeswehr und während dieser Zeit mehrmals an Auslandseinsätzen beteiligt. Der gebürtige Bochumer trat nach dem Abitur in die Bundeswehr ein und studierte dort Pharmazie und Lebensmittelchemie. 1991 erhielt er seine Approbation als Apotheker.
Die aktuelle Lage in Afghanistan bereitet ihm besonderen Kummer, denn er gehörte zu den ersten Soldat:innen, die vor zwanzig Jahren am Hindukusch eintrafen und in der Militärbasis Camp Warehouse stationiert waren. Das aktuelle Kriegsgebiet kennt er daher gut, vor allem die Städte Kabul und Masar-e Scharif, in denen er während seiner Einsätze viel unterwegs war. In der Regel dauerten seine Einsätze viereinhalb Monate.
Während der Zeit wurde er nicht nur als Kompaniechef, sondern auch als leitender Apotheker eingesetzt, erzählt Berge. Die Arbeitsbedingungen waren hart: „Das Klima in Afghanistan war zum Beispiel ganz anders als in Deutschland: Oftmals waren es 43 Grad im Schatten und 90 Grad im Flugzeug. Es war eine Herausforderung, die Lagerbedingungen von kühlkettenpflichtigen Arzneimitteln wie beispielsweise Bluthochdruckmedikamenten sicherzustellen.“ Hinzu kam das Miteinander auf engstem Raum – und natürlich die Risiken des Einsatzes selbst. „Zum Beispiel gab es in Kabul während meines ersten Kontingents keine Minensicherheit,“ berichtet der Ex-Soldat.
Als leitender Apotheker und Lebensmittelchemiker gehörte auch die lebensmittelchemische Überwachung im Einsatzland zu seinen Aufgaben. Regelmäßig inspizierte er die Lager der Firmen, mit denen die Truppen zusammenarbeiteten, um die Lebensmittelversorgung sicherzustellen. „Hygienemaßnahmen hatten höchste Priorität, denn nur ein paar Keime hätten ein gesamtes Einsatzkontingent lehmlegen können.“ In Kabul besichtigte er oftmals kleine Bäckereien, um seine Truppe mit seltenen Highlights wie Keksen oder Fladenbrot zu überraschen – Balsam für die Seele der Soldat:innen, wie er sagt.
Am meisten beeindruckte Berge jedoch der Auslandseinsatz in Banda Aceh, der Hauptstadt der indonesischen Insel Sumatra, nach der Tsunami-Katastrophe im Jahre 2004. „In so einem Katastrophengebiet, in dem es absolut nichts mehr gab, eine Apotheke aufzubauen, war hochinteressant,“ erzählt er. Vor Ort habe es weder medizinische Versorgung noch Wasser oder ein Kanalisationssystem gegeben. Die ersten ein bis zwei Wochen hätten er und seine Kamerad:innen weder ihre Kleidung ablegen noch sich waschen können. „Einmal musste ich mit einem Fahrradrikscha durch die Stadt fahren, um irgendwo Abführmittel aufzutreiben, weil unsere Mädels schon seit einer Woche nicht mehr auf der Toilette waren.“ Alles bei über 40 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit.
Die Pharmazie in solchen Krisengebieten sei nicht vergleichbar mit der in Mitteleuropa. „Man muss sich gedanklich lösen von Laboren, denn so etwas gab es vor Ort in keiner Form,“ erklärt der Apotheker. Stattdessen habe die Not erfinderisch gemacht: „Einmal hatten wir einen Fall, in dem ein Säugling mit Erythromycin behandelt werden sollte – doch wir hatten das Komprimat nur in einer Größe vor Ort, die ein Erwachsener kaum schlucken könnte. Wir sahen uns also vor die schwierige Aufgabe gestellt, dieses Arzneimittel irgendwie in der richtigen Dosierung in das Kind hineinzubekommen.“
Am Ende sei die Lösung in Form eines Getränketütchens und eines Werkzeugkastens gekommen: „Ich fand ein Getränketütchen, das innen lebensmittelecht beschichtet war, und zermöserte das Komprimat darin mit einem Hammer. Danach nahmen wir das Pulver in einer definierten Menge an Wasser auf und führten es dem Säugling schließlich Stück für Stück über eine Magensonde zu.“ Der GMP sei in solch einer Situation zweitrangig gewesen. „Nur eine Frage zählte: Wie schaffe ich es, dieses Kind vor dem Tod zu retten?“
Gerade weil er das Leid in Krisen- und Kriegsgebieten mit eigenen Augen gesehen hat, macht ihn die momentane Lage in Afghanistan wütend: „Die Lage wurde katastrophal falsch eingeschätzt. Schon als ich 2002 das erste Mal in Kabul eingetroffen bin, war mir klar: Wir brauchen minimal 50 Jahre, wenn wir hier irgendetwas bewirken wollen.“ Die aktuellen Entwicklungen seien aus seiner Sicht mehr als vorhersehbar gewesen, wenn man sich mit der Geschichte des Landes beschäftigt hätte.
Trotzdem seien die Einsätze der letzten 20 Jahre nicht umsonst gewesen, findet Berge: „Die afghanische Bevölkerung ist jung, 50 Prozent ist unter achtzehn. Wir konnten eine ganze Generation heranziehen, die Freiheit erlebt hat.“ Die Ergebnisse dessen zeigten sich zum Beispiel in Jalalabad, wo trotz der Macht der Taliban auch Frauen unter den Demonstrierenden gewesen seien. Der Einsatz habe auch auf das Gesundheitssystem nachhaltige positive Auswirkungen gehabt: „Wir haben die Ausstattung von Krankenhäusern und auch die medizinische Bildung selbst verbessert.“ So sei es auch Frauen endlich möglich gewesen, Medizin zu studieren. Hoffnung hat Berge dennoch nur begrenzt: „Am Ende des Tages wird keine Nation der Welt Frieden nach Afghanistan bringen können – das kann nur das afghanische Volk selbst.“
2017 trat der Apotheker über ein Sondergesetz vorzeitig auf eigenen Antrag aus dem Dienst der Bundeswehr aus. Mittlerweile arbeitet er als Vertretungsapotheker in verschiedenen Apotheken und Impfzentren in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Außerdem ist Berge als freier Autor tätig: Während seines Auslandseinsatzes 2007 in Mazar-e Sharif, Nordafghanistan, entstand der Kinderroman „Finjas fantastische Reise“. Ursprünglich handelte es sich dabei lediglich um eine Gutenachtgeschichte, die er für seine damals sechsjährige Tochter schrieb, erzählt er: „Ich war schon wieder viereinhalb Monate weg und schickte die Geschichte per Post nach Deutschland, damit meine Frau sie unserer Tochter jeden Abend vorlesen konnte.“
Jahre später wurde die Geschichte im Harz als Musical aufgeführt und Berge erhielt so zahlreiche positive Rückmeldungen, dass er 2019 in Zusammenarbeit mit zwei Leipziger Illustrator:innen schließlich „Finjas fantastische Reise“ als Buch auf den Markt brachte. Auch seine Leidenschaft für den Fußball hat ihn nie ganz losgelassen: Nebenbei arbeitet Berge als Fußball-Trainer.