Bowel Urgency: Stuhldrang außer Kontrolle Hanna Meiertöns, 23.01.2023 13:18 Uhr
In Deutschland sind knapp eine halbe Million Menschen von einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung betroffen. Der Umstand und die Angst davor, ihren Stuhl nicht halten zu können, ist für Patient:innen eine besondere psychische Belastung mit großen Auswirkungen auf den Alltag.
Das Symptom der „Bowel Urgency“ (BU, übersetzt etwa: imperativer Stuhlgang) beschreibt das plötzliche und dringende Bedürfnis, den Darm zu entleeren. Mehr als 80 Prozent der Colitis-ulcerosa-Patient:innen sind von BU betroffen, etwa jede:r Zweite hat täglich damit zu tun. Als Indikator für den Schweregrad der Symptomatik wird die Aufschubzeit angewendet – also die Zeit, die der Stuhlgang hinausgezögert werden kann, nachdem die Dringlichkeit verspürt wurde. Bei 54 Prozent der Betroffenen beträgt diese Aufschubzeit weniger als fünf Minuten, in schweren Fällen sogar weniger als 30 Sekunden.
Der zugrundeliegende Pathomechanismus ist noch nicht abschließend geklärt, vermutet werden eine Fehlfunktion oder Überempfindlichkeit der glatten Muskulatur und des Rektums, submuköse Fibrose (krankhafte Vermehrung des Bindegewebes) und eine Überempfindlichkeit und verstärkte kontraktile Reaktionen des Enddarms. Die Reaktionen würden durch die chronischen Entzündungsprozesse hervorgerufen.
Nicht sexy
Im Rahmen der internationalen Aufklärungskampagne „Urgency Anonymous“ werden die Geschichten von Betroffenen geteilt, die anonym über ihre Erfahrungen geschrieben haben. Vorgelesen werden die Briefe durch Ärzt:innen. Dadurch soll nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die behandelnden Ärzt:innen für dieses Symptom sensibilisiert werden. „Es ist nicht sexy darüber zu reden“, weiß Professor Dr. Tanja Kühbacher, Chefärztin der Klinik für Innere Medizin, Diabetologie, Gastroenterologie, Pulmonologie, Tumormedizin und Palliativmedizin an der Medius-Klinik Nürtingen. Der Leidensdruck der Patient:innen ist aber umso höher.
Insgesamt sind in Deutschland etwa 420.000 bis 470.000 Menschen von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) betroffen, die als moderne Zivilisationserkrankungen beschrieben werden, davon 270.000 von Colitis Ulcerosa. Eine CED kann in jedem Lebensalter auftreten.
Die Symptome und Belastungen der Patient:innen sind vielfältig und reichen von Bauchschmerzen, erhöhter Stuhlfrequenz, Diarrhö und blutigem Stuhlgang zu Tenesmus (andauernder schmerzhafter Stuhl- oder Harndrang) und Bowel Urgency. Auch Gelenkschmerzen und Hautveränderungen können auftreten. Depressionen, Schlafstörungen, Zukunftsängste, Isolation und Einsamkeit sind keine Seltenheit, Betroffene sehen sich auch mit sozialer Stigmatisierung konfrontiert.
Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn
Die Hauptformen der CED sind Colitis ulcerosa (CU) und Morbus Crohn (MC).
Bei der CU ist eine zusammenhängende Schleimhautentzündung charakteristisch, diese kann sich vom Rektum über den gesamten Dickdarm erstrecken. Im Falle einer MC-Erkrankung ist am häufigsten der letzte Abschnitt des Dünndarms betroffen, aber auch im Dickdarm können Entzündungen auftreten. Diese breiten sich bis in die tieferen Schichten der Darmwand aus und sind dabei auf mehrere Entzündungsherde verteilt.
CU und MC treten schubweise auf: Im Krankheitsverlauf wird in der Regel zwischen Rückfall und Remission (vorübergehende oder dauerhafte Abschwächung der Symptome) gewechselt. Nur bei etwa 15 Prozent der MC-Patient:innen und 24 Prozent der CU-Patient:innen tritt eine kontinuierliche Krankheitsaktivität auf.
Bei einer Meinungserhebung unter 200 Betroffenen wurde abgefragt, welche Symptome der CED sie am meisten beeinträchtigen würden. Bei fast 80 Prozent befand sich „Bowel Urgency“ in den Top 5, Durchfall nannten über 70 Prozent. Viele Patient:innen würden Einlagen verwenden und hätten immer Ersatzwäsche dabei.
Starke Beeinträchtigung in Beziehung und Beruf
69 Prozent der Befragten gaben an, die Erkrankung beherrsche ihr Leben, 83 Prozent fühlen sich psychisch dadurch belastet. Sogar 71 Prozent denken, sie wären ohne ihre Erkrankung beruflich erfolgreicher.
Mehr als die Hälfte der Befragten schränkten aufgrund der Erkrankung auch ihre sexuellen Aktivitäten ein, die „sexuelle Gesundheit ist maßgeblicher Faktor für Lebensqualität“, so Prof Dr. Christian Jacob, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in dem durch Lilly Deutschland ausgerichteten Pressegespräch. Auch erektile Dysfunktionen und Infertilität würden in Verbindung mit CED auftreten. Generell weisen Patient:innen mit CED laut Jacob vermehrt Somatisierungen (körperlicher Ausdruck psychischen Unwohlseins) auf, jeder dritte bis vierte Patient habe Angst- oder Depressivitätssymptome. Windeln und Einlagen zu tragen sei für viele beschämend.
Häufig sind in derselben Familie mehrere Personen betroffen, eine genetische Veranlagung ist naheliegend. Die Angst davor, die Erkrankung zu vererben, hegten 69 Prozent der Befragten. 44 Prozent gaben sogar an, dass die Erkrankung eine Rolle bei der Kinderplanung spiele.