Betrug im Testzentrum, Chaos bei der KV? Patrick Hollstein, 02.12.2024 09:00 Uhr
Weit mehr als Milliarde Euro sollen Betrüger mit falsch abgerechneten Corona-Tests nach Schätzungen des Bundeskriminalamts erbeutet haben. Zahlreiche Gerichte sind mit der Aufarbeitung beschäftigt, doch der Nachweis ist nicht immer einfach. Die zurückgeholten Summen sind bislang gering. Offenbar waren auch die Kassenärztlichen Vereinigung (KVen) heillos überfordert. Das Verwaltungsgericht Frankfurt (VG) brachte jetzt im Streit um das Testzentrum einer türkischen Großfamilie seinen ganzen Ärger über das Chaos zu Papier.
Fünf Teststellen gehörten zu einem Verbund aus Hessen, der im Laufe des Jahres 2022 zahlreiche angeblich durchgeführte Bürgertests abrechnete. Im Frühjahr 2023 verweigerte die KV Hessen wegen „Abrechnungsauffälligkeiten“ die weitere Auszahlung und leitete eine weitere Abrechnungsprüfung nach § 7a Abs. 2 Testverordnung (TestV) ein. Im Juli dieses Jahres fordert die KV schließlich den gezahlten Betrag von knapp 850.000 Euro komplett zurück und ordnete die sofortige Vollziehung an.
Doppeluntersuchungen
Zur Begründung hieß es, es habe Mehrfachtestungen derselben Personen am selben Tag gegeben; alleine für Januar 2022 seien in einem Testzentrum 120 Doppeltestungen ermittelt worden. Einige Personen seien darüber hinaus am selben Tag an unterschiedlichen Teststationen des Verbunds getestet worden.
Tests im Minutentakt
Auffällig seien auch Testungen derselben Personen innerhalb weniger Minuten, bei denen das Testergebnis erst negativ und dann positiv gewesen sei. Zudem seien Bürgertestungen teilweise im Minutentakt oder zeitgleich durchgeführt worden, obwohl pro Testung zwei bis drei Minuten veranschlagt worden seien. Auch fehlerhafte Tests seien fälschlicherweise abgerechnet worden.
Selber Familienname
Besonders auffällig sei die Testung von Personen mit demselben Familiennamen wie der Betreiber selbst. Oftmals seien diese Menschen in gleichen Konstellationen an aufeinanderfolgenden Tagen getestet worden. Es sei davon auszugehen, dass Personendaten vervielfältigt wurden, um Nachweise zu fingieren. Grob fahrlässig sei auch die nicht ordnungsgemäße Dokumenation.
Betreiber rechtfertigt sich
Der Betreiber argumentierte, dass die Teststellen ordnungsgemäß betrieben worden seien. Die beanstandeten Doppelbuchungen seien auf einen Fehler der genutzten Software „Testor“ zurückzuführen; man sei davon ausgegangen, dass doppelte Ausführungen nach der Fehlerbehebung gelöscht wurden.
Mehrfachtestungen seien darauf zurückzuführen, dass Angestellte im Schichtbetrieb gearbeitet und dadurch nicht gewusst hätten, dass bestimmte Personen bereits getestet wurden. Auch der große Andrang habe eine entsprechende Kontrolle unmöglich gemacht. Die TestV sehe im Übrigen gar keine Beschränkung täglicher Testungen vor.
Der türkische Nachname komme häufig vor; allein im seinem Wohnblock seien 18 Personen mit dem Nachnamen gemeldet, darunter einige pflegebedürftige und alte Personen. Seine Familie habe sich nun einmal bei den eigenen Stationen testen lassen wollen und nicht bei anderen Teststellen.
Unterschiedliche Testergebnisse seien auf defekte Testkits oder Anwendungsfehler der Mitarbeitenden, die jedoch sorgfältig geschult worden seien, zurückzuführen. Die Anzahl der positiven Tests sei jedenfalls korrekt an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet worden. Und zu guter Letzt bestehe Vertrauensschutz, da die Gelder bereits für Lohnzahlungen, Materialkosten und Mieten verbraucht seien. Bei einer Rückzahlung drohe die Insolvenz.
1000 Seiten voller Lücken
Leider nur schien die KV selbst mit der Dokumentation vollkommen überfordert zu sein. Erst auf „dringende Erinnerung des Gerichts“ sei überhaupt eine 499-seitige Behördenakte vorgelegt worden, moniert das VG. Und auf telefonische Nachfrage zur Vollständigkeit seien dann noch einmal 490 Seiten übermittelt worden.
Doch diese Unterlagen reichten offenbar nicht aus, um das VG von der Notwendigkeit des sofortigen Vollzugs zu überzeugen: Die „mangelhafte Aktenführung“ führe dazu, dass die Rückforderungsentscheidung nicht hinreichend gerichtlich überprüft werden kann und daher eine Offenheit des Ausgangs des Verfahrens in der Hauptsache anzunehmen ist.“ Also entschied das Gericht, dass der Betreiber das Geld vorerst behalten kann, jedenfalls bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahren.
Dann gab es noch eine ordentliche Breitseite in Richtung KV: Zum „Gebot zur Führung von vollständigen Akten“ gehöre, dass alle vom Beginn bis zum Ende eines Verwaltungsverfahrens angefallenen schriftlichen und elektronischen Äußerungen zu den Akten zu nehmen sind, und zwar unabhängig von ihrer letztlichen Entscheidungserheblichkeit. „Dem wird die vorgelegte Behördenakte nicht im Ansatz gerecht, was eine effektive gerichtliche Überprüfung im summarischen Eilverfahren verhindert.“
So sei davon auszugehen, dass die Korrespondenz zwischen den Beteiligten nur bruchstückhaft abgelegt wurde. Selbst der Rückforderungsbescheid und der dagegen gerichtete Widerspruch fänden sich nicht in der Behördenakte; nur anhand eines Schreibens lasse sich überhaupt erkennen, dass die Akte tatsächlich den vorliegenden Fall betreffe.
Richter tappen im Dunkeln
Auch die Leistungsdokumentation sei nur unvollständig; der Rückforderungsbescheid beziehe sich auf Monate, für die gar keine Daten in der Behördenakte zu finden seien. „Es ist auch nicht ersichtlich, wie die Antragsgegnerin auf etwaige Abrechnungsauffälligkeiten gestoßen ist und ob etwa zu deren Feststellung künstliche Intelligenz eingesetzt wurde. Gerade in Anbetracht der erheblichen zur Überprüfung gestellten Rückforderungssumme muss das Gericht anhand der Behördenakte in die Lage versetzt werden, den Entscheidungsfindungsprozess der Antragsgegnerin nachzuvollziehen und zu überprüfen. Das ist vorliegend nicht möglich.“
Anhand der im Rückforderungsbescheid aufgeführten Beispiele ließen sich bei summarischer Prüfung derzeit jedenfalls keine systematischen Abrechnungsauffälligkeiten erkennen: So würden lediglich vier Fälle für Mehrfachtestungen derselben Person am selben Tag in der gleichen Teststelle genannt, die behaupteten 120 Doppeltestungen hätten gar keinen Anknüpfungspunkt in der Behördenakte. Zwei Beispiele für Mehrfachtestungen an unterschiedlichen Teststellen genügten ebenfalls nicht zum Nachweis, dass hier systematisch betrofen worden sei.
Was die zeitgleichen Testungen angehe, teile man zwar die Bedenken der KV. Ob dafür jedoch ein Beispiel, nämlich sechs Testungen in einer Testsstelle ausreichten, sei ebenfalls fraglich und bedürfe weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Gleiches gelte für die zwei Beispiele unterschiedlicher Testergebnisse, diese genügten nicht für eine Hochrechnung zulasten des Betreibers, so das Gericht.
Auch sei unstrittig, dass fehlgeschlagene Testungen nicht der Allgemeinheit in Rechnung zu stellen sind. „Sollte es sich um fehlerhafte Testkits handeln, wäre die Antragstellerin auf das Gewährleistungsrechts zu verweisen. Sofern zu wenig Probenmaterial beim Abstrich gewonnen werden konnte, erscheint es dem Gericht ebenfalls nicht angemessen, solche Testungen der Allgemeinheit anzulasten, unabhängig davon, ob diese auf einem (Fehl-)Verhalten der Testperson oder Fehlern bei der Probenentnahme beruhen.“ Aber auch hier genüge nicht ein einziges Beispiel für die Abrechnung fehlerhafter Tests, um systematische Abrechnungsauffälligkeiten zu begründen.
Kein Verbot von Familientestungen
Und auch die Häufung von Personen mit demselben Nachnamen ist laut Gericht noch kein Anlass dafür, eine missbräuchliche Abrechnung von Testleistungen zu begründen. Zwar hatte das VG in einem anderen Fall befunden, dass „Familientestungen“ sowohl hinsichtlich der ordnungsgemäß durchgeführten Testleistungen als auch der Dokumentation zweifeln ließen. Hier sei allerdings scheinbar stets in den zugelassenen Teststellen getestet worden.
Und da sich jeder Bürger jeden Tag einmal testen lassen durfte, spiele es auch gar keine Rolle, ob das Vorgehen der Angehörigen „primär von dem Ziel eines möglichst lückenlosen Infektionsschutzes getragen war oder jedenfalls auch eine möglichst hohe Zahl an abrechenbaren Tests für die Betreiberin der Teststellen mit dem gleichen Nachnamen beabsichtigt wurde“.
Für andere Auffälligkeiten – Doppeltestungen, Angabe unterschiedlicher Adressdaten und fragwürdiger Geburtsdaten – würden ebenfalls jeweils nur ein bis drei Beispiele genannt, die teilweise erklärt werden konnten.
Auf die Debatte um eine auffällig geringe Anzahl positiver Tests wollte sich das VG gar nicht einlassen: „Das Gericht hat keine Möglichkeit, bei summarischer Prüfung nachzuvollziehen, ob und wie viele positive Tests an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet wurden. Gleiches gilt für einen etwaigen Vergleich des Positiv-Negativ-Verhältnisses zur Gesamtzahl der Testungen und der tagesaktuellen 7-Tage-Inzidenz. Es wäre insofern erforderlich, konkrete Vergleichsparameter glaubhaft zu machen.“