Schielen ist mehr als ein Schönheitsfehler. Es kann ein Anzeichen für eine schwerwiegende Sehbehinderung sein. Je früher eine Therapie beginnt, desto besser sind die Heilungsaussichten.
Schon unmittelbar nach der Geburt erkunden Babys mit ihren Augen die Welt. Aber sie müssen alles erst üben – auch das Sehen: Zunächst nehmen sie ihre Umgebung nur undeutlich wahr. Erst im Laufe der ersten Lebenswochen entwickeln sie nach und nach die Fähigkeit, die Bewegung der beiden Augen zu koordinieren und in eine Richtung zu lenken. Und erst dann können sie richtig sehen. Eltern sollten in dieser Phase, aber auch in späteren Jahren ihr Kind genau beobachten, rät Professor Dr. Klaus Rüther, Berliner Facharzt für Augenheilkunde. „Kommt ihnen dabei nur der geringste Verdacht, dass das Kind schielt, sollte dies unbedingt augenärztlich untersucht werden.“
Beim Schielen – oder medizinisch Strabismus – liegt eine Fehlstellung eines Auges vor. Oft, aber nicht immer, gibt es hierfür eine familiäre Veranlagung. Ursache können auch einseitige Linsentrübungen oder in seltenen Fällen Tumore im Auge sein. „Schielen ist immer bedenklich, wenn es nicht nur ganz vorübergehend, zum Beispiel bei Müdigkeit auftritt“, sagt der Reutlinger Kinder- und Jugendarzt Till Reckert. Er ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Beim parallelen Sehen werden Bilder, die jedes Auge wahrnimmt, im Gehirn zu einem dreidimensionalen Sehen zusammengefügt, wie Rüther erläutert. Blickt nun ein Auge in eine andere Richtung, dann können im Gehirn die Seheindrücke nicht zu einer Einheit werden. Es kommt zu einer Doppelsichtigkeit.
Das kindliche Gehirn will solche Doppelbilder ausschalten und unterdrückt den vom schielenden Auge übermittelten Seheindruck – mit fatalen Folgen: Es kann sich eine Sehschwäche beim nichtbenutzten Auge entwickeln. „Je früher eine solche Schielschwachsichtigkeit entdeckt und therapiert wird, desto besser sind die Heilungschancen“, betont Rüther, der Mitglied des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands (BVA) ist. Unbehandelt bleibt die Schielschwachsichtigkeit ein Leben lang bestehen. Betroffene haben ein höheres Erblindungsrisiko und können längst nicht jeden Beruf ausüben.
Eltern sollten ihr Kind spätestens zwischen dem 30. und 40. Lebensmonat vorsorglich augenärztlich untersuchen lassen, empfiehlt Rüther. Sind in der Familie Fehlsichtigkeiten oder Schielen bekannt, sollte die Untersuchung schon am Ende des ersten Lebensjahres erfolgen. Im Fall des Falles hängt die Therapie von der Ursache ab.
Nicht selten liegt dem sogenannten Einwärtsschielen eine nichtkorrigierte Fehlsichtigkeit zugrunde. „In solchen Fällen kann dem Kind dann eine Brille helfen“, erläutert Rüther. Um eine Sehschwäche zu verhindern oder zu beseitigen, kommt auch auf eine sogenannte Okklusionsbehandlung zum Zuge. „Dabei wird nach Anweisung des Augenarztes in einem bestimmten Rhythmus das nicht-schielende Auge mit einem Pflaster abgeklebt“, so Rüther. Damit soll das schielende Auge trainiert werden.
Grundsätzlich kann Schielen nicht nur in der Kindheit, sondern in jedem Alter auftreten. Nach BVA-Angaben sind rund vier bis fünf Millionen Deutsche betroffen. „Es gibt eine Vielzahl von Schielarten“, sagt Dagmar Verlohr vom Berufsverband der Orthoptistinnen Deutschlands (BOD). Es gibt zum Beispiel sogenanntes latentes Schielen, das nur in bestimmten Situationen auftritt, etwa nach Alkoholkonsum. Hinter dem Lähmungsschielen stecken gelähmte Nerven im Bereich der Augenmuskeln. Beim alternierenden Schielen wechseln sich die Augen in der Fehlstellung ab.
Ein Auswärtsschielen liegt vor, wenn ein Auge nach außen zeigt. „Ein Problem ist, dass man das Schielen nicht immer an sich selbst direkt wahrnimmt“, erklärt Verlohr. So gibt es etwa das sogenannte kleinwinkelige Schielen. Es hat teilweise einen Schielwinkel von nur einem Grad, hat aber dennoch dieselben Folgen – etwa Schwachsichtigkeit – wie das sogenannte großwinklige Schielen. Alarmzeichen können laut Verlohr dichtes Herangehen beim Lesen oder Fernsehen, Verschwommensehen, spontanes Zukneifen der Augen oder Lichtempfindlichkeit sein. Bei solchen Warnsignalen sollten Betroffene zum Augenarzt gehen.
Liegt eine Schwachsichtigkeit vor, verordnet der Augenarzt eine eventuell erforderliche Brille. Vorsicht ist angesagt, wenn man spontan Doppelbilder sieht. Das können auch Vorboten eines Schlaganfalls sein. In solchen Fällen muss umgehend ein Notarzt gerufen werden. Liegt kein Schlaganfall vor, und man sieht trotzdem Doppelbilder, kann auch bei Erwachsenen vorübergehend ein Auge abgedeckt oder das vorhandene Brillenglas mit einer Folie versehen werden, um Doppelbilder zu vermeiden.
Bessert sich bei Erwachsenen das Schielen innerhalb eines Jahres nicht, kann auch eine Augenmuskel-Operation notwendig werden. „Bei einem solchen Eingriff wird der Schielwinkel korrigiert“, sagt Rüther. Bei Kindern erfolgt die Operation häufig vor der Einschulung. Allerdings: Je früher die OP erfolgt, desto höher ist das Risiko, dass die Verbesserungen nicht von Dauer sind und ein weiterer Eingriff notwendig wird. Vorbeugend kann man außer mit einer sachgerechten Brillenkorrektur gegen Schielen nichts tun.
APOTHEKE ADHOC Debatte