Apotheker über „Die Manipulation der Pharmaindustrie“ Laura Schulz, 28.09.2024 15:40 Uhr
Tino Seidemann ist Apotheker in einer Düsseldorfer Apotheke. So ganz angekommen ist er in der öffentlichen Apotheke aber auch nach sieben Jahren noch nicht. Der Grund dafür sind für ihn regelmäßige Konflikte zwischen seinem Heilberuf und der auferlegten Rolle des Händlers, die sich seiner Meinung nach im Rahmen des Apothekerdaseins nur sehr schwer miteinander vereinbaren lassen. Um hier öffentlich wachzurütteln, hat er ein „Enthüllungsbuch“ geschrieben. Mit „Die Manipulation der Pharmaindustrie“ will er über die Apotheken- und Pharmabranche aufklären und zeigen, wann Patient:innen ihrer Apotheke vertrauen können und wann eher nicht."
Dabei ging es Seidemann auch um die Vermittlung von Hintergrundwissen aus der Apothekenwelt. Immer wieder ist ihm aufgefallen, dass viele Menschen gar nicht verstehen, wie sich die Preise in der Apotheke zusammensetzen. Warum sind Arzneimittel plötzlich teurer, warum werden sie ausgetauscht oder sind nicht lieferbar – das will der Apotheker mit seinem Buch erklären. „Mit meinem Buch möchte ich den Patienten ein leicht verständliches Nachschlagewerk geben, das diese Fragen beantwortet und ihnen dabei hilft, ein stärkeres Bewusstsein im Umgang mit der eigenen Gesundheit zu geben“, so Seidemann.
Ein objektiver Blick sei dabei wichtig. So wolle er die Apothekenbranche nicht per se schlecht reden, hält aber die Kolleg:innen für falsch, die sich zu sehr auf den Verkauf konzentrieren. Es sei schließlich wichtig, den Menschen zu helfen, der reine Abverkauf dürfe nicht im Vordergrund stehen.
Gefangene des Systems
Apotheker:innen seien häufig Gefangene des Systems: „Aus logistischen Gründen können wir den Leuten nicht so helfen, wie es eigentlich gedacht ist.“ Dabei gehe auch der Respekt gegenüber dem Personal verloren; Apotheker:innen würden unterschätzt und auf die Rolle der Abgebenden reduziert. Dabei könnten Apotheken viel mehr leisten. „Wir stehen für die Sicherheit der Menschen, damit sie nicht die falschen Mittel einnehmen“, meint er und verweist auf fragwürdige Social-Media-Trends. „Ich dachte mir: Ich muss einen Weg finden, damit die Leute sich in diesem Bereich besser zurechtfinden.“ Daher sei „enthüllen“ nur eine Seite, er wollte auch einen Ratgeber schaffen, der den Leserhilft, „ihre Gesundheit ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen und zu unterscheiden, was für sie richtig ist.“
Um die schwarzen Schafe zu erkennen, gibt Seidemann Tipps mit an die Hand. „Eine Begrüßung scheint selbstverständlich, sie ist es aber nicht überall.“ Bei Mitteln, mit denen sie sich selbst auskennen, könnten Kund:innen auch einfach mal selbst das Personal auf die Probe stellen. Auch ein häufiger Personalwechsel könne für eine weniger gute Apotheke stehen. „Apotheken sollten Patienten als Patienten wahrnehmen und nicht als Kunden“, meint der Autor.
Sobald der Verkauf im Vordergrund stehe, sollten die Leute die Apotheke wechseln, findet Seidemann. Beim Up- oder Cross-Selling seien einfach gewisse ethische Grenzen zu wahren, die Patientin oder der Patient sollten im Vordergrund stehen. Welche Rolle Psychologie bei der OTC-Preisgestaltung spielt und wann Kaufentscheidungen überdacht werden sollten, will der Apotheker ebenfalls aufzeigen.
Buch aus Frust geschrieben
Geschrieben hat er das Buch auch aus Frust, wie er sagt. „Ich habe mir dieses Studium ‚angetan‘, sechs Jahre lang Vollgas gegeben und das Wissen in mich reingepumpt.“ Schon Kleinigkeiten hätten in Klausuren zu massiven Abwertungen geführt, immer mit der Rechtfertigung der Dozent:innen, dass kleine Fehler in diesem Job schließlich Menschenleben gefährden könnten.
Doch die Arbeit in der Apotheke vor Ort brachte Ernüchterung: „Ich habe Schweiß, Tränen und Blut investiert und war einfach nur enttäuscht, dass wir dieses ganze Wissen nicht anwenden können. In der Apotheke sind wir nur bessere Preisauskünfte“, meint Seidemann. Da sei es nicht verwunderlich, dass viele Pharmazeut:innen lieber in die Industrie gehen.
Mit seiner Einstellung ist Seidemann bereits häufig im Arbeitsleben angeeckt. „Ich bin schon in mehreren Apotheken gekündigt worden“, gibt er zu. „Wenn ich Blödsinn baue, dann stehe ich dazu. Aber wenn ich einfach meinen Job mache, verstehe ich das nicht“, sagt er. So hätten sich Kund:innen auch schon beschwert, weil er zu viele Fragen gestellt habe. „Ich habe auch schon die Abgabe verweigert, wenn das mit meinem Gewissen nicht zu vereinbaren war, wie beispielsweise bei Iberogast für eine Schwangere.“
Jetzt ist er in einer Apotheke, in der er sich wohlfühlt. „Das ist eine tolle Apotheke, ein tolles Team, aber es gibt Dinge, die mich stören“ – wie Nacht- und Notdienste und die Situation, wenn es aufgrund des Andrangs zu einer Art Massenabfertigung kommt. Er sieht aber auch: „Das ist einfach ein Fehler im System.“ Er hätte lieber die Freiheit, selbst auszuwählen, mit welchen Patient:innen er arbeitet.
Mehr Verständnis und mehr Aufklärung
Viele Menschen haben keine Ahnung von den gesundheitspolitischen Hintergründen, den Verhandlungen der Krankenkassen über Arzneimittel oder der Ausbildung der Pharmazeut:innen. Daher wollte er den Beruf „in einem neuen Licht vorstellen, da viele Patienten ihn für einen Ausbildungsberuf halten, um zu veranschaulichen, dass viele Probleme in der Apotheke nicht durch die Willkür des Personals entstehen, sondern durch die Vorgaben, nach denen wir uns richten müssen“.
Von den Kolleg:innen bekommt er viel Zuspruch; viele sehen zudem die Pharmaindustrie ebenfalls kritisch. Das zeigt die aktuelle Lage im Fall Ozempic – zwischen einem wichtigen, aber nicht verfügbaren Arzneimittel und einem Lifestyle-Produkt – ebenso wie die viel zu günstigen Nasensprays. „Diese sollte man nicht zum Ramschpreis rausgeben“, sagt er, „sondern die Menschen mit höheren Preisen vor sich selbst und dem Missbrauch schützen. Arzneimittel sollten besondere Waren bleiben.“