Mit kreativen Aktionen wehrten sich Jürgen Uebel und seine Mitstreiter jedes Jahr aufs Neue gegen aufmarschierende Neonazis in ihrer Stadt Bad Nenndorf. Dafür erhält der langjährige Besitzer der Kur-Apotheke das Bundesverdienstkreuz.
Das Ungemach brach 2006 urplötzlich über die beschauliche 11.000-Einwohner-Stadt im Landkreis Schaumburg herein. „Damals wurde die Grabstätte von Rudolf Heß in Wunsiedel aufgelöst, zu der alljährlich die Neo-Nazis pilgerten“, erläutert Uebel. Auf der Suche nach adäquatem Ersatz wurden die Rechten in Bad Nenndorf fündig. „Im Gebäude des Wincklerbads verhörte der britische Geheimdienst von 1945 bis 47 Nazi-Größen“, so der Apotheker. „Fakt ist, die Briten haben hier Menschen misshandelt und gefoltert, es sind hier Menschen zu Tode gekommen.“
Die Rechten meldeten einen Trauermarsch an, der durch die zentrale Bahnhofstraße zum Wincklerbad führen sollte. Zähneknirschend mussten die Behörden die Demonstration unter Auflagen genehmigen. Wessen Geistes Kind die Marschierer sind, sei schon schnell deutlich geworden, sagt Uebel. „Da wurden schwarze Fahnen geschwungen, die SS angerufen, Lieder aus der Hitlerjugend gesungen und auch der Hitlergruß gezeigt.“ Und sie kamen immer wieder: Im ersten Jahr wurden etwa 100 Teilnehmer gezählt, 2008 waren schon 500 dabei, 2010 wurden 1000 Rechte gezählt. Bis zu 2500 Polizisten sicherten die Stadt. Nichts ging mehr. „Mit Genehmigung der Kammer hatten auch alle Apotheken geschlossen“, sagt Uebel. „Es war nicht möglich, einen freien Zugang zu unseren Betriebsstätten zu gewährleisten.“
Uebel entschloss sich zum Widerstand und gründete schon 2006 das Aktionsbündnis „Bad Nenndorf ist bunt“. „Ich bin hier in Bad Nenndorf groß geworden, war eine Weile weg, bevor ich in der Apotheke meines Vaters gearbeitet und sie dann 1995 übernommen habe“, berichtet Uebel. „Wie wir alle wurde ich 2006 vom ersten Aufmarsch überrascht. In erster Linie habe ich mich eher als Bürger denn als Apotheker gefragt, ob wir als Nazi-Wallfahrtsort gesehen werden wollen oder doch lieber eine andere Außendarstellung bevorzugen.“ Da gelte es, einem Missbrauch der bewährten Institutionen entgegen zu treten. „Die Nazis nutzen ganz geschickt alle demokratischen Instrumente, die sie dann der Reihe nach beseitigen, wenn sie an die Macht kommen. Wir als Gesellschaft müssen uns mit Zivilcourage und in Abstimmung mit der Politik dagegen stemmen.“
Allerdings galt es einige Überzeugungsarbeit im Ort zu leisten. „Als die Nazis 2006 aufmarschierten, war das hier die erste Demo nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagt Uebel. „Die Mai- oder die Friedensdemos fanden alle in den großen Städten statt. Aber ich sagte mir, das wurde uns hier aufgestülpt, also zeigen wir auch, dass wir euch nicht hier haben wollen.“ Vielen Mitbürgern sei das zunächst fremd gewesen. „Sie hatten Bedenken, manche gar Angst. Da gab es Bilder im Kopf von der Antifa, die sich mit der Polizei kloppt und dabei kaputt gehenden Vorgärten.“
Doch Uebel und seine bald immer zahlreicheren Mitstreiter blieben hartnäckig. „Unsere Mitbürger merkten, dass man aus einer Demo auch heil wieder rauskommt. Zudem setzte sich das Gefühl durch, dass wir uns unseren Ort nicht nehmen lassen wollen.“ Im Jahr 2009 schloss sich der örtliche Sportverein dem Protest an. Die Bad Nenndorfer setzten ihren „Gästen“ mit Partys entlang der Wegstrecke zu. „Viele tanzten und schmissen Konfetti in die Menge. Zuerst lachten die Nazis noch, aber dann wurden sie von ihren Altvorderen daran erinnert, dass das hier ja ein Trauermarsch ist.“
Die Bürger wurden in ihrem zivilen Widerstand immer mutiger: 2013 blockierten sie mit Unterstützung von Auswärtigen und Antifa-Aktivisten das Wincklerbad und versperrten so den Rechten den Weg. Die Polizei musste jeden Einzelnen von ihnen wegtragen. „Die Nazis schäumten und wollten immer wieder durchbrechen“, erinnert sich Uebel. „Es machte sie ganz wuschig, dass sie nicht zum Ort ihrer Begierde gelangen konnten.“
Von Mal zu Mal nahm die Zahl der Aufmarschierenden jetzt ab, 2014 kamen gerade noch 200 zusammen. „Die Leute hatten einfach keinen Bock mehr, sich verarschen zu lassen.“ Offiziell ist die Demo bis 2030 weiter an jedem ersten Samstag im August angemeldet. Doch schon 2016 ließen sich die Rechten nicht mehr sehen. „Die Internetseite zum Aufmarsch existiert nicht mehr, die Facebook-Seite wurde seit zwei Jahren nicht mehr gepflegt“, so Uebel.
Das Aktionsbündnis macht weiter. „Regelmäßig gibt es antisemitische Schmierereien an der Synagoge, so machen wir Veranstaltungen an den Schulen zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar oder dem Jahrestag der Reichskristallnacht am 9. November.“ Ein Höhepunkt des örtlichen Kalenders ist das alljährliche Kulturfest, am 9. Juni findet es bereits zum 13. Mal statt. Wieder einmal wollen die Bad Nenndorfer zeigen, dass ein friedliches und fröhliches Miteinander „über alle kulturellen Schranken hinweg“ möglich ist.
„Die Apotheke ist ein Ort der gesellschaftlichen Begegnung und ein Ort, an dem auch Diskussionen stattfinden“, erzählt Uebel. „Es gab hier kontroverse Debatten, es gab so manche, die sich fragten, ob man nicht einfach wegschauen sollte.“ Auch sein Team hätte die Auswirkungen des Engagements hautnah zu spüren bekommen. „Immer kurz vor dem Aufmarsch und den Gegenaktionen stand das Telefon von morgens bis abends nicht mehr still. Die damit zusätzlich verbundene Arbeit haben meine Mitarbeiterinnen klaglos hingenommen, dafür haben sie meinen Respekt.“
Während das Bündnis nach Jahren breite Akzeptanz in der Stadtbevölkerung fand, setzte sich Uebel mit seinem Einsatz gegen Agnes Miegel bei vielen Mitbürgern in die Nesseln. Die Dichterin war bei Kriegsende aus Ostpreußen vertrieben worden und lebte bis zu ihren Lebensende 1964 in Bad Nenndorf. Lange Jahre stand ein ihr gewidmetes Denkmal im Kurpark. Doch zu Beginn des Jahrzehnts entbrannte ein Streit über ihr Vermächtnis, zu dem auch schwelgerische Hymnen auf den Führer gehörten. Bis zu ihrem Lebensende hatte sich Miegel nie von ihrer NS-Vergangenheit distanziert. Uebel machte sich für die (später erfolgte) Entfernung der Statue stark. „Viele beschwerten sich bei mir, dass ich die ‚liebe Agnes‘ beschädigen wolle“, erinnert er sich. „Man sagte mir, ‚wenn du das weiterverfolgst, dann war ich das letzte Mal bei dir‘. Tatsächlich sind mir Kunden weggebrochen.“
Dabei sei es nicht geblieben: „Ich bin im Laufe der Jahre wiederholt als Apotheker angegriffen worden, da gab es öffentliche Anfeindungen wie: ‚Wenn er seinen Beruf so ausübt, wie er politisch denkt, dann muss man sich in Acht nehmen‘“, berichtet der Pharmazeut. Er wurde als „Uebeltäter“ geschmäht, das Miegel-Denkmal bekam in einer Fotomontage ein zusätzliches Schild mit schmähender Aufschrift verpasst: „Und erlöse uns von dem Uebel.“ Das Apothekengebäude sei wiederholt beschmiert worden, dazu kursierten Aufrufe zum Telefonterror. Uebel aber dachte nicht daran, klein bei zu geben: „Wenn ich hier lebe, muss ich mich entscheiden, ob ich meinen Mund halten oder mich positionieren will.“
Selbstverständlich freue er sich über das Bundesverdienstkreuz. „Die Reihe der Bundesverdienstkreuzträger ist ja überwiegend honorig“, hat der Apotheker festgestellt. „Wenn ich mir anschaue, wer bei der Ehrung am 22. Mai so alles dabei ist, fühle ich mich in guter Gesellschaft.“ Aber die Ehre gebühre nicht ihm allein: „Ich bin stolz auf uns alle! Wir haben gezeigt, dass es sich lohnt, gemeinsam für unseren Ort einzustehen. Einigkeit macht stark. Wir müssen nicht alles gut finden, aber einen gewissen Konsens haben. Nur so können wir erfolgreich sein.“
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