Die Mehrwertsteuersenkung hat schon vor ihrem offiziellen Inkrafttreten einen neuen Preiskampf im deutschen Lebensmittelhandel ausgelöst. Vorreiter war der Discounter Lidl, der schon mehr als eine Woche vor dem offiziellen Stichtag die Preise reduzierte. An den Regalen in den Filialen prangt schon seit dem 22. Juni für jedes Produkt ein großes rotes Schild mit einem markanten „Billiger!“ sowie dem alten und dem neuen Preis. Konkret: Dosentomaten kosten jetzt 38 statt 39 Cent, Fischstäbchen 3,42 statt 3,49 Euro. Und auch die ersten Apotheken ziehen mit: Vor der Vital-Apotheke in Gaggenau steht ein Hinweisschild: „Wir geben sie weiter – MwSt.-Reduzierung direkt an der Kasse“.
Inhaberin Tatjana Zambo hat zunächst gezögert, die Senkung der Mehrwertsteuer 1:1 an die Kunden weiterzugeben: „Ich dachte, damit sollte der Handel gefördert werden.“ Doch dann wuchs auch wegen der Rabattaktionen der Discounter der Druck: „Bei den Kunden gibt es die Erwartungshaltung, dass wir die Reduzierung weitergeben.“
Ab morgen werden das viele Apotheken so handhaben. Doch ob das reibungslos an der Kasse läuft, ist unklar. Die Softwarehäuser haben in den letzten Tage Updates in die Apothekensoftware eingespielt, die aber noch nicht überall fehlerfrei läuft. „Wir können ja auch an der Kasse die Minus 3 Prozent händisch abziehen“, sagt Zambo. Damit es keine Verwirrung und Diskussionen mit den Kunden gibt, hat die Apothekerin eine Liste erstellt mit den unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen. Denn auf Tees, Säfte und Mineralstoffprodukte wird beispielsweise nur der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 7 beziehungsweise ab morgen 5 Prozent erhoben. „Ich hoffen, dass es an den Kassen keine Diskussionen mit den Kunden gibt,“ sagt Zambo.
Bei manchen Kosmetikartikeln will Zambo mit ihren Rabatten über die Mehrwertsteuersenkung hinausgehen: „In der Coronakrise sind viele Kosmetikartikel liegengeblieben“, berichtet sie. Auf einige Produkte werde sie daher 10 Prozent Rabatt anbieten. Insgesamt schätzt Zambo, die auch stellvertretende Vorsitzende des Landesapothekerverbandes Baden-Württemberg ist, die Lage der Apotheken kritisch ein: „Wir müssen jetzt in Summe sehen, wie wir aus der Corona-Krise herauskommen. Uns fehlt in den letzten Wochen ein wesentlicher Teil des Rx-Umsatzes“, so Zambo. Das können für kleinere Apotheken existenzbedrohend sein.
Daher hofft Zambo immer noch, dass der Kollateralschaden der Mehrwertsteuersenkung über den Kassenabschlag doch noch irgendwie ausgeglichen wird. „Sonst verlieren wir alle zusammen 12 Millionen Euro.“ Für Apotheken am Rande des Existenzminimums könne das den Ruin bedeuten. Auch wenn die Mehrwertsteuersenkung bereits beschlossene Sache ist, hofft Zambo auf eine Regelung im Sozialgesetzbuch: „Die Gespräche laufen weiter.“
Im gesamten Einzelhandel war das Vorpreschen von Lidl nur der Auftakt im Rotstift-Wirbel der Lebensmittelhändler. Denn der Erzrivale Aldi legte bereits am vergangenen Samstag noch eine Schippe drauf und senkte die Lebensmittelpreise nicht nur wie vom Gesetzgeber vorgegeben um 2, sondern sogar um 3 Prozentpunkte. Dies koste Aldi einen dreistelligen Millionenbetrag, betonte das Unternehmen. Doch will der Konzern offenbar sein Preisimage stärken.
Und die Drogeriemarktkette Rossmann machte am Montag genau das Gleiche. „Die Mehrwertsteuersenkung soll für unsere Kunden klar und unkompliziert sein, daher gehen wir auf drei Prozent Rabatt und unterscheiden nicht zwischen dem Normal- und ermäßigten Steuersatz“, sagt Raoul Roßmann, Geschäftsführer Einkauf und Marketing.
Auch Rewe will die Mehrwertsteuersenkung vollständig an die Kunden weitergeben, geht aber einen anderen Weg. Statt bei allen Produkten die Steuersenkung 1:1 weiterzugeben wie viele Konkurrenten, senkt der Handelsriese lieber die Preise bei ausgewählten Produkten „deutlich und dauerhaft“ und wirbt dafür mit dem Slogan „Mehr als die Mehrwertsteuersenkung sparen“. Außerdem werde Rewe Woche für Woche zweistellige Preisnachlässe auf wichtige Warengruppen geben – in dieser Woche etwa einen 10-prozentigen Rabatt auf das Drogerie-Sortiment, kündigte ein Unternehmenssprecher an. Die Discount-Tochter Penny gibt dagegen ab dem 1. Juli die Mehrwertsteuersenkung an der Kasse an die Kunden weiter.
Edeka und Netto senkten schon am Montag die Preise – allerdings nicht ganz so großzügig wie Aldi oder Rossmann. Für eine Vielzahl der Produkte runde die Supermarktkette die Verkaufspreise – nach Abzug der steuerlichen Vorteile – zugunsten der Kunden ab, erklärt Edeka. Die Discount-Tochter Netto runde sogar alle Preise zugunsten der Kunden. Abseits des Lebensmittelhandels verzichten dagegen viele Händler auf einen Frühstart und warten den 1. Juli ab. Das gilt etwa für Deutschlands größte Drogeriemarktkette dm und die Nummer 1 im Schuhhandel Deichmann. Auch die Elektronikketten Media Markt und Saturn geben die Steuersenkung 1:1 an die Kunden weiter.
Aufmerksam sein müssen die Kunden beim Shoppen bei Amazon. Ein Sprecher betonte am Montag zwar: „Wir haben das Ziel, die Umsatzsteuerermäßigung vollständig an Kunden weiterzugeben. Bei den eigenen Angeboten von Amazon werden die Kunden von Einsparungen für Millionen von Produkten profitieren.“ Doch wies er gleichzeitig darauf hin, dass die Verkäufer auf dem Amazon Marketplace individuell darüber entschieden, ob und wie sie den Preisnachlass weitergeben. Der Online-Modehändler Zalando kündigte an, er werde die temporäre Steuersenkung „vollumfänglich an die Kundinnen und Kunden weitergeben“.
Für den Handelsexperten Stephan Rüschen von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn kommt es nicht überraschend, dass sich der Preiskampf im deutschen Handel ausgerechnet jetzt zuspitzt. Er warnte schon frühzeitig: „Die Mehrwertsteuersenkung erhöht die Gefahr eines Preiskrieges im Einzelhandel.“ Denn sie biete den Händlern eine fast einzigartige Möglichkeit, sich zu profilieren. Bei einer Umfrage der Handelsberatung BBE, an der vorwiegend kleinere und mittlere Unternehmen abseits des Lebensmittelhandels teilnahmen, gab jeweils rund ein Fünftel der befragten Händler an, die Steuersenkung nicht oder nur teilweise an die Kunden weitergeben zu wollen. Ein weiteres Fünftel war noch unsicher über das weitere Vorgehen.
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