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Das Maß des Notwendigen Alexander Müller, 02.04.2016 07:59 Uhr

Berlin - 

Selbst anerkannt unmusikalische Apotheker, Ärzte, Hebammen und Physios erkennen einen Akkord sofort: Jene Moll-Harmonie des Sparens, den die Krankenkassen auf der Klaviatur anschlagen, wann immer jemand die Frechheit besitzt, nach angemessener Bezahlung einer Leistung zu fragen. Der Vierklang geht so: ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich, das Maß des Notwendigen nicht überschreitend. Das ist sehr oft das Ende des Liedes.

Das heilige Wirtschaftlichkeitsgebot im Sozialgesetzbuch suggeriert mit seinem aufzählenden Klang eine Exaktheit, die der Realität vielfach spottet. Die Begriffe werden in der Praxis weit gedehnt. Vor allem in der Inkontinenzversorgung kann von einer ausreichenden und zweckmäßigen Versorgung meist keine Rede sein – immerhin das Kriterium „wirtschaftlich“ wird mit Hilfe von Ausschreibungen übererfüllt.

Und obwohl die Politik auf die unhaltbaren Zustände aufmerksam geworden ist und endlich Gegenmaßnahmen einleitet, sparen die Kassen auch aktuell eisern weiter: Die Knappschaft hat die Lieferverträge zu Ende Mai gekündigt und zahlt für die Versorgung mit Inkontinenzhilfen ab Juni nur noch eine Monatspauschale von 15 Euro, bisher waren es 21 Euro. Das Maß des Notwendigen nicht überschreitend, zitiert die Kasse aus dem Gesetz. Das Wort bedeutet aber ursprünglich „geeignet, eine Not zu wenden“. Und wo ließe sich eine Not besser ausmachen als in diesem sensiblen Versorgungsbereich. Nicht umsonst heißt es Notdurft.

Es hat sich aber in der Praxis ein Vorgehen eingespielt, dass die Not mit in die Kalkulation genommen wird. Der Zuschlag wird ergattert, die Versicherten kaufen adäquates Material aus eigener Tasche und stellen so eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung her. Das ist die Privatisierung der Not. Das führt so weit, dass Kassen wie die Barmer GEK ihre Ausschreibung abbrechen, weil nur Dumpingpreise geboten werden. Die Politik ist reichlich spät aufgewacht. Höchste Zeit, das Klavier der Kassen zu stimmen.

Schneller einsichtig gezeigt hat sich die Politik beim Anti-Korruptionsgesetz. Auf den letzten Metern wurde das Strickmuster des Gesetzes grundlegend verändert. Die Rechtspolitiker von Union und SPD haben die Expertenkritik ernst genommen und die gefährliche Anbindung an das Berufsrecht gestrichen. Weil auch der Bezug und die Abgabe von Arzneimitteln nicht nur de facto, sondern auch de jure kaum korrupt sein kann, müssen Pharmazeuten nun anscheinend nicht länger fürchten, wöchentlich vom Staatsanwalt heimgesucht zu werden.

Gleichwohl hat die lange Debatte schon Spuren im Markt hinterlassen. Zunächst hatten die Großhandelsaußendienstler kurzerhand versucht, Skonti für korrupt zu erklären, was scheiterte. Der OTC-Außendienst argwöhnte zumindest hier und da über künftige Rabatte. Dieser Spuk dürfte jetzt vorerst vorbei sein.

Bei der Kooperation Migasa hat man intern reagiert und die Apotheker aus der Geschäftsführung entfernt – zu ihrem eigenen Schutz. Der Gedanke: Der im Anti-Korruptionsgesetz angesprochene Apotheker soll sich nicht aus Versehen strafbar machen können, wenn er in übliche Geschäfte einer Kooperation eingebunden ist. Angesichts der aktuellen Entwicklung wirkt die Vorsichtsmaßnahme etwas übertrieben. Ausbaden muss das Thomas Knoll, der jetzt alleiniger Geschäftsführer ist.

Einsam an der Spitze von DocMorris hatte sich Ralf Däinghaus offenbar wohler gefühlt als unter dem Dach der Stuttgarter Celesio-Zentrale. Deswegen war er nach der EuGH-Klatsche von Bord und seiner Wege gegangen. Die Geschäfte mit alten Leuten liefen vielleicht nicht so gut wie geplant. Jetzt ist er jedenfalls zurück. Sein Comeback nach sechs Jahren gibt der heute 48-Jährige als Leiter der deutschen Niederlassung des britischen Datendienstleisters Aegate.

Und es schließt sich der Kreis: DocMorris kooperiert jetzt mit Aegate bei der Umsetzung der EU-Fälschungsrichtlinie. Securpharm wäre auch viel zu Mainstream. Außerdem glaubt man bei DocMorris mit Aegate den besseren Partner gefunden zu haben. Damit schaffe der Versender bereits heute die technischen Voraussetzungen für die spätestens ab Februar 2019 geforderte europaweite Echtheitsprüfung von rezeptpflichtigen Arzneimitteln, heißt es.

Bei Securpharm sieht man das sehr gelassen. „Die deutschen Stakeholder – ABDA, Phagro und Arzneimittelhersteller – haben sich eindeutig für Securpharm entschieden“, kommentiert Geschäftsführer Martin Bergen. Da seine Mitspieler schon gehörig in die Technik investiert haben, muss er vermutlich auch nicht nervös werden, dass sie ihm mit Aegate untreu werden könnten.

Mit der Fälschungsrichtlinie sollen der Arzneimittelvertrieb innerhalb der EU noch sicherer werden. Garantiert kein gefälschtes Arzneimittel ausliefern kann ein Großhändler, wenn er erst gar keine Bestellungen annimmt. So erging es Alliance Healthcare am vergangenen Wochenende wegen eines Totalausfalls des Hauptrechners. Nur vereinzelt konnte immerhin telefonisch bestellt werden. Am Mittwoch konnte Alliance verkünden: „Jetzt läuft wieder alles ganz normal.“

Das würde Apotheker Karl-Matthias Lichte auch gerne von seiner Südholz-Apotheke im nordrhein-westfälischen Detmold behaupten. Aber mit der Vollsperrung seiner Straße für drei Viertel des vergangenen Jahres war es nicht getan: Beim Verlegen eines Wasserrohrs wurde anschließend falsch „angeschüttelt“. Jetzt ist die Straße wieder voll gesperrt. Und zwei Ärzte sind weggezogen. „Die Apotheke trifft es momentan von allen Seiten“, klagt Lichte.

Zumindest eine künftige Einnahmequelle bekommen Lichte und seine Kollegen, wenn es schon mit dem Honorar länger dauert. Dem politischen Wunsch folgend werden auch die Apotheken künftig für die Abgabe von Plastiktüten eine Gebühr verlangen. Das Bundesumweltministerium glaubt zwar den Selbstverpflichtungen der Handelsbranchen noch nicht über den Weg, aber so oder so muss das Ziel erreicht werden: 40 statt 70 Tüten pro Kopf bis 2025. Die Apothekerverbände gehen voran: „Wir packen’s ohne Plastik!“

Manchmal kommen Patienten aber auch schon mit vollen Tüten in die Apotheke – in diesem Fall voll versorgt mit Kompressionsstrümpfen. Das machte einen Apotheker aus Essen stutzig, weil die phlebologische Praxis im selben Haus liegt. Er vermutete eine verbotene Absprache zwischen der Praxis und einem Sanitätshaus. Doch die Richter glaubten ihm nicht und wiesen auch die Rüge der Ärztekammer ab. Zumindest in solchen Fällen öffnet das Anti-Korruptionsgesetz künftig neue Möglichkeiten. Es ist also nicht alles schlecht. Schönes Wochenende! (Und wenn Sie bei dem schönen Wetter grillen möchten: ausreichend, aber das Maß des Notwendigen nicht überschreitend.)