Anja und die Hitze Anja Alchemilla, 28.04.2019 07:46 Uhr
Der beinahe übergangslos heiße Frühling ist nicht für jeden die reine Freude. Anja Alchemilla hat den Eindruck, dass die hohen Temperaturen der Laune ihrer Kunden und Kollegen abträglich ist. Statt sich an der Sonne zu erfreuen, sind scheinbar mehr Menschen als sonst gereizt und reagieren verständnislos. Die Kunden nicht zu vergraulen und dabei auch das Team bei Laune zu halten, ist an solchen Tagen besonders schwierig.
„Schaut mal – das hier habe ich gerade in die Hand von einer Kundin in die Hand gedrückt bekommen. Ein Rezept über ein verschreibungspflichtiges Medikament gegen Warzen. Ausgestellt vom Friseur gegenüber.“ Die PTA Sonja wedelt mit einem handgeschriebenen Zettel in der Luft herum, der ursprünglich wohl zum Notieren von Terminen angeschafft wurde. Auf solche Notizzettel schreibt der pharmazeutisch interessierte Haarkünstler in der letzten Zeit häufiger einmal seine Kundentipps. „Ich finde das geht jetzt zu weit. Letzte Woche habe ich ihr noch lang und breit erklärt, wie sie die Warzen vereist, aber sie sagte, sie will noch eine Zweitmeinung einholen. Offenbar von unserem Figaro!“
Anja versucht, die Kollegin zu beruhigen. „Ich finde das schon fast witzig, ehrlich gesagt. Du würdest auch darüber lachen, wenn dir heute keine Laus über die Leber gelaufen wäre. Was ist denn los?“ Sonja rollt mit den Augen: „Irgendwie ist heute der Wurm drin. Die Kunden sind auch alle gleich auf 180. Und die Sprüche erst! Ich hab schon wieder alles gehört von ‚Nie haben sie was da, immer muss alles bestellt werden‘ über ‚Hier habe ich gesammelte Werke‘, ‚Ich will mein Frühstück abholen‘, ‚Ich wollte nicht die ganze Apotheke kaufen‘, ‚Wieso bekomme ich hier immer was anderes als das, was auf dem Rezept steht‘ bis hin zu ‚Woanders bekomme ich immer, was ich will‘, ‚Fünfmal die Rundschau‘ und so weiter und so fort.“
„Okay, ich verstehe schon... Aber ist das nicht eigentlich immer so?“, fragt Anja ihre genervte Kollegin. „Ja schon. Aber heute habe ich noch dazu Kopfschmerzen. Da ertrage ich das schlechter.“ Die Filialleiterin will Sonja gerade trösten, da hört sie, dass sich im HV neuer Ärger anbahnt. Sie macht sich auf den Weg, um ihrer zweiten PTA zur Seite zu stehen. Als Anja nach vorne kommt, merkt sie schnell, wo das Problem liegt, denn es geht mal wieder um die Inkontinenzversorgung. Die Kundin versteht nicht, warum sie trotz Rezept keine Pants für ihren Mann bekommen kann. Als sie Anja sieht, hellt sich ihre Miene schlagartig auf. „Aha, da kommt die Chefin! Jetzt werden wir ja sehen, ob das geht oder nicht!“
Im vollen Bewusstsein dessen, dass sie sich im Recht befindet, deutet sie auf die unglückliche PTA, die versucht hatte, ihr die Sachlage zu erklären, aber die Worte dafür offenbar unglücklich gewählt hat. „Ihre Angestellte hier hat gesagt, dass ich hier mit dem Rezept nichts bekommen kann. Und dass ich alles selbst bezahlen muss, wenn ich was mitnehmen will, das stimmt doch so nicht! Die Krankenkasse zahlt das doch, ich habe doch dafür extra einen Vertrag bei ihnen unterschrieben!“ Anja atmet tief durch und erklärt der Kundin das Prinzip der Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, und dass das rein gar nichts mit der Inkontinenzversorgung zu tun hat.
„Frau Meier, ich kann sie wirklich so gut verstehen“, sagt sie, blickt der alten Dame direkt in die Augen und berührt sie leicht an der Hand. „Wenn es nach mir gehen würde, dann könnten wir ihnen noch heute etwas nach Hause liefern. Aber Ihre Krankenkasse wollte mit den Apotheken vor Ort zu meinem Bedauern keinen Vertrag abschließen, wir dürfen das Rezept nicht annehmen. Ich suche Ihnen aber gleich die Telefonnummer heraus, an die Sie sich wenden können. Wenn Sie zu Hause sind, rufen Sie dort an, und bis Sie etwas geliefert bekommen, packe ich Ihnen ein paar Muster für Ihren Mann ein. Dann ist er erst einmal versorgt und Sie sehen gleich, womit Sie am besten zurechtkommen. Machen wir das so?“
Frau Meier nickt erleichtert, während Anja die Telefonnummer im Internet heraussucht und Sonja schon mit den Probemustern bereitsteht. Die Kundin verlässt die Apotheke mit dem Gefühl, dass hier warmherzige und mitfühlende Menschen arbeiten, an die sie sich wenden kann. Die gerettete PTA bedankt sich bei Anja für die schnelle Hilfe. „Ich hatte mich irgendwie falsch ausgedrückt, glaube ich. Sie war gleich stinksauer und für Argumente nicht mehr zugänglich.“ Anja nickt: „Die Kunden sind ja nicht per se von vorneherein unhöflich. Meistens befinden sie sich nur in irgendeiner Notsituation und brauchen Hilfe. Wenn wir dann direkt ‚nein‘ sagen, dann eskaliert die Situation. Wir müssen sie nur dort abholen, wo sie stehen. Dann läuft das. Und jetzt machen wir uns einen Eiskaffee, ich habe alles dafür mitgebracht. Kalter Kaffee, Vanilleeis und Sahne stehen hinten im Kühlschrank – das hilft auch gegen schlechte Stimmung!“