Die einen sprechen von einer Epidemie, die anderen lieber gar nicht darüber: Knapp eine Million Menschen lebt in Russland mit HIV. Viele von ihnen sind mit der Angst vor Aids jedoch alleine. Eine Aktivistin in der russischen Provinz will das ändern.
Als die Russin Polina Rodimkina als Jugendliche von ihrer HIV-Erkrankung erfuhr, war sie wie betäubt. „Ich habe mich versteckt“, sagt sie. Zwei oder maximal drei Jahre zu leben, das habe sich die heute 38-Jährige noch ausgerechnet. Damals sei sie ein unerfahrener Teenager gewesen. Sie war mit ihrer Angst alleine. Hilfe von Psychologen oder Sozialarbeitern bekam sie nicht.
Doch sie überlebte. Heute, 22 Jahre nachdem sie sich angesteckt hat, hilft Rodimkina anderen Patienten. In ihrer Heimatstadt Jekaterinburg am Tor zu Sibirien klärt sie über HIV und Aids auf, nebenbei arbeitet sie in einem Rehabilitationszentrum für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Auch in der Öffentlichkeit spricht sie über die Krankheit, über die viele in Russland lieber kein Wort verlieren wollen. Rodimkinas Engagement ist in der konservativen Gesellschaft in der russischen Provinz sehr ungewöhnlich – obwohl Gesundheitsorganisationen schon seit Jahren dem Land eine Aids-Epidemie diagnostizieren.
Mehr als 0,5 Prozent der Bevölkerung hat sich mit HIV angesteckt. Das sind knapp eine Million Russinnen und Russen. Nach Behördenangaben infizieren sich pro Stunde etwa zehn Menschen in Russland mit dem Virus. Viele haben keinen Zugang zu Medikamenten und fachgerechter Betreuung oder können sich die teure Behandlung nicht leisten. Besonders in Teilen Südrusslands, des Urals und Sibiriens ist die Lage dramatisch.
Das Gebiet Swerdlowsk, in dem Rodimkina lebt, führt russlandweit die Liste mit der höchsten Anzahl von HIV-Infizierten an. Nach Angaben des regionalen Aids-Zentrums wurden bisher insgesamt mehr als 93.000 HIV-Fälle registriert. Noch heute leben dort mehr als 73 000 Menschen mit dem HI-Virus. Die Häufigkeit von Neuerkrankungen ist dort demnach zwei Mal höher als im landesweiten Durchschnitt. Hilfe bekommen HIV-Infizierte in erster Linie von Nichtregierungsorganisationen wie etwa „Neue Zeit“. Diese kümmert sich vor allem um Frauen und Kinder und versorgt sie mit Lebensmitteln.
Die Politik will sich das Thema nun auf die Fahne schreiben. In einem Strategiepapier erklärte das Gesundheitsministerium in Moskau, mehr in die Aufklärungsarbeit zu investieren. Mit Onlineaktionen versucht man, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Ministerin Veronika Skworzowa sieht erste Erfolge. Die Zahl der HIV-Tests sei in den vergangenen zehn Jahren um 36 Prozent gestiegen, sagte sie der Agentur Tass zufolge.
Rodimkina, die mit Infizierten und deren Familienangehörigen zusammenarbeitet, hat andere Erfahrungen gemacht. Sie sieht in ihrer Arbeit immer wieder, wie wenig Jugendliche über Sex, Verhütungsmethoden und das Virus wissen. Das sei in russischen Lehrplänen nicht vorgesehen. „Es wäre besser, wenn Lehrer mit ihren Schülern darüber sprechen würden“, sagt sie. Viele Menschen, besonders außerhalb der modernen Städte Moskau und St. Petersburg, wüssten nicht über die Krankheit Bescheid. Auch nicht, wie man sich mit dem HI-Virus ansteckt – oder wie man sich schützt. Besonders die Kirche und Konservative versuchen die Aufklärung zu verhindern, weil sie dies für unmoralisch halten.
Auch Rodimkina hat eine Tochter. Die 13-Jährige ist gesund und weiß, dass ihre Mutter HIV-positiv ist. „Meine Tochter versteht, dass es ein ernstes Thema ist“, beschreibt die Russin. „Wir sprechen darüber, dass man erst nachdenken und dann handeln sollte.“ Ungern erinnert sie sich an ihre Teenagerzeit zurück, als sie sich beim Sex mit ihrem drogenabhängigen Freund ansteckte.
Mittlerweile hat das Aids-Zentrum in der Uralstadt sein Angebot ausgebaut und bietet seit 2008 etwa HIV-Schnelltests an. Auch psychologische Hilfe und Prävention gehören zur Arbeit. Ziel sei es auch, dass HIV-positive Menschen nicht mehr stigmatisiert oder diskriminiert werden, heißt es auf der Webseite des Zentrums.
Denn das ist für viele Betroffene in Russland noch immer Alltag. Auch Rodimkina hat viel Negatives erlebt. Erst vor Kurzem war sie bei einer Veranstaltung über den Umgang mit Aids am Arbeitsplatz. „Ich habe dort neben einer Frau gesessen und ihr am Ende gesagt, dass auch ich HIV-positiv bin“, sagt Rodimkina. Die Sitznachbarin sei in diesem Moment direkt ein Stück von ihr weggerückt.
Jeden Tag nimmt Rodimkina Medikamente ein, um zehn Uhr morgens und abends. Die Kosten übernimmt der Staat. Auch von ihrer Familie bekommt sie viel Rückhalt – obwohl es Jahre gedauert hat, bis sie offen mit ihrer Krankheit umgehen konnte. Ihr Bruder sei stolz, dass sie heute öffentlich und selbstbewusst darüber spreche. „Auch meine Tochter hat nichts dagegen“, sagt Rodimkina. Nur ihre Mutter, die schweigt noch immer.
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