Zappelphilipp-Syndrom

ADHS häufiger bei früh Eingeschulten dpa/ APOTHEKE ADHOC, 02.12.2018 09:36 Uhr

Berlin - 

Sie kippeln mit dem Stuhl, laufen im Klassenraum umher oder stören den Unterricht. Vor allem kleinen Jungen fällt es anfangs schwer, einen Vormittag in der Schule durchzuhalten. Wird bei einigen deshalb fälschlicherweise ADHS festgestellt? Nach der Einschulung erhalten die jüngsten Kinder in einer Klasse häufiger eine ADHS-Diagnose als ihre ältesten Mitschüler. Das berichten US-Forscher der Harvard Universität nach einer Studie im renommierten „New England Journal of Medicine“.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist die häufigste psychische Erkrankung im Kinder- und Jugendalter. Die Betroffenen lassen sich leicht ablenken, sind impulsiv und oft motorisch unruhig. Die Forscher werteten Versichertendaten von über 400.000 amerikanischen Mädchen und Jungen aus, die zwischen 2007 und 2009 geboren wurden. Dabei berücksichtigten sie die ADHS-Diagnosen bis Ende 2015.

In 18 US-Staaten ist der 1. September der Stichtag für die Einschulung in eine Art Vorschule, in den USA Kindergarten genannt. Wer bis zum 31. August fünf Jahre alt wird, muss eingeschult werden, wer nach dem 1. September Geburtstag hat, muss noch ein Jahr warten. Die Rate von ADHS-Diagnosen und ADHS-Therapien war in diesen 18 Staaten bei den Augustkindern um 34 Prozent höher als bei den knapp ein Jahr älteren Septemberkindern. In US-Staaten mit flexibler Einschulung gab es diese Auffälligkeit nicht. Möglicherweise werde ADHS bei vielen Kindern überdiagnostiziert, weil sie in den ersten Schuljahren im Vergleich zu ihren Klassenkameraden noch relativ unreif seien, sagte Erstautor Timothy Layton Schon frühere Studien hatten einen Zusammenhang zwischen frühem Einschulungsalter und ADHS-Diagnose belegt – etwa nach einer 2015 veröffentlichten Auswertung von Millionen von Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten in Deutschland.

Demnach erhielten 5,3 Prozent der jung eingeschulten Grundschüler im Verlauf ihrer Schulzeit eine ADHS-Diagnose, aber nur 4,3 Prozent der spät eingeschulten. „Es kann sein, dass manche Kinder ein falsches Etikett bekomme“, sagt der ADHS-Experte Marcel Romanos. An eine große Anzahl von Fehldiagnosen glaubt der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg allerdings nicht. Schließlich werde die Diagnose nur dann gestellt, wenn die Betroffenen in mehreren Lebensbereichen beeinträchtigt seien, nicht nur in der Schule. „Ältere Kinder mit einer ADHS-Problematik können diese möglicherweise besser kompensieren und fallen den Lehrern im Unterricht deshalb nicht auf“, sagt er.

Kinder später einzuschulen, sei keine Lösung, meint der Psychiater. Positiv findet Romanos, dass Lehrkräfte heute sehr aufmerksam sind und Eltern darauf hinweisen, wenn Schüler Konzentrationsprobleme hätten oder nicht still sitzen könnten. „Das machen sie sehr gut und das muss auch so sein, weil die Schule der neue Lebensmittelpunkt der Kinder ist.“

In den USA stieg die Zahl der ADHS-Diagnosen in den vergangenen 20 Jahren dramatisch an, allein 2016 wurden nach Mitteilung der Harvard Medical School über 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen deshalb mit Medikamenten behandelt. In Deutschland sei die Zahl der Diagnosen seit einigen Jahren stabil und habe sich laut Erhebungen des Robert Koch-Instituts (RKI) zuletzt sogar reduziert, sagt Romanos. 1 bis 2 Prozent der Kinder werden dem Experten zufolge medikamentös behandelt. Am weitesten verbreitet ist der Wirkstoff Methylphenidat, besser bekannt unter dem Namen Ritalin. Seit kurzem darf es schon bei mittelschwerer Ausprägung von ADHS verschrieben werden, häufig kombiniert mit einer Verhaltenstherapie.

Die Experten weisen in der neuen Leitlinie darauf hin, retardierte Arzneiformen verschiedener Hersteller aufgrund einer unterschiedlichen Freisetzung des Wirkstoffes nicht gegeneinander auszutauschen. Viele behandelnde Ärzte und Therapeuten halten eine generelle Ablehnung einer medikamentösen Behandlung für falsch. „Ich würde es quasi als Kunstfehler ansehen, ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten“, sagt etwa Ralph Schliewenz, Diplom-Psychologe aus Soest und Mitglied im Vorstand der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Allerdings: „Keine Medikation ohne begleitende Psychotherapie“, betont Schliewenz. „Medikamente wirken immer nur so lange, wie man sie nimmt. Sie allein können die mit ADHS einhergehenden Probleme nicht beseitigen. Eine Verhaltenstherapie hilft dabei.“