Gerinnungsfaktoren sind seit kurzem wieder apothekenpflichtig, der Direktvertrieb über sogenannte Hämophilie-Zentren wurde abgeschafft. Dass das nicht nur die Apotheken stärkt, sondern auch die Ärzte entlastet, zeigt ein Fall aus Niedersachsen: Ein Mediziner soll mehr als eine halbe Million Euro an eine Kasse zurückzahlen, weil er die Präparate über eine Apotheke bestellt hatte.
Der Facharzt für Transfusionsmedizin betreibt seine Praxis als MVZ. Zwischen 2007 und 2009 verordnete er Faktorpräparate wie Advate, Fibrogammin, Haemate, Mononine und Wilate – bestellte diese aber nicht direkt beim Hersteller, sondern über eine Apotheke. Eine Kasse wurde auf den Fall aufmerksam und forderte die Prüfstelle Niedersachsen auf, den Arzt in Regress zu nehmen.
In §47 ist für Gerinnungsfaktoren eine Ausnahme von der Apothekenpflicht vorgesehen – 2015 entschied das Bundessozialgericht (BSG), dass Ärzte verpflichtet sind, diese Möglichkeit zu nutzen, wenn dies kostengünstiger ist. Damals ging es um eine Medizinerin aus Sachsen-Anhalt, die einen Regress über 16.000 Euro erhalten hatte, weil sie einen Bluterpatienten mit Rezepten in die Apotheke geschickt hatte.
Im vorliegenden Fall könnte der Schaden ungleich höher ausfallen. Die Kasse beanstandete die Versorgung von 14 bei ihr versicherten Bluterpatienten – insgesamt ging es um eine Abrechnungssumme von knapp 3,4 Millionen Euro. Durch den Direktbezug hätte die Kasse nach eigener Berechnung 649.000 Euro sparen können – diesen Betrag wollte sie von dem Mediziner zurück.
Tatsächlich nahm die Prüfungsstelle den Arzt in vollem Umfang in Regress – der Mediziner erhob Widerspruch und argumentierte, er habe die Präparate in seiner Praxis verabreicht – die Ausnahmevorschrift greife hier nicht. Nach dem Gesetzeswortlaut sei ein Direktbezug nämlich nur vorgesehen, wenn es sich dabei „um Gerinnungsfaktorenzubereitungen [...] im Rahmen der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung von Blutern“ handele.
Nur zwei der 14 Patienten seien Bluter, die Präparate Fibrogammin, Haemate und Wilate dürften nur unter Aufsicht eines Arztes und nicht in der Selbstbehandlungen eingesetzt werden, so seine Auffassung. Außerdem sei die Bestellung und Abgabe von Faktorpräparaten in der Praxis personell, strukturell und finanziell extrem aufwendig. Verhandlungen darüber verweigere die Kasse seit Jahren, sodass sie für eventuell entstandene Mehrkosten auch selbst gerade stehen müsse. Im Übrigen wurde der angebliche Schaden genauso bestritten wie der angeblich mögliche kostengünstiger Direkteinkauf.
Der Widerspruch war erfolgreich, der Beschwerdeausschuss folgte der Argumentation und hob den Regress auf. Was die Rezepte über Advate und Mononine bei zwei Bluterpatienten anging, sahen die Prüfer das Wirtschaftlichkeitsgebot aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls als nicht verletzt an: Bei dieser geringen Patientenanzahl hätte der Arzt im Direktbezug aus ihrer Sicht nicht die kostengünstigen Zentrumspreise aushandeln können, sodass der Bezug über die Apotheke nicht signifikant – mehr als 10 Prozent – teurer war.
Der Fall ging vor Gericht, die Kasse klagte auf Neuentscheidung. Das Sozialgericht Hannover (SG) folgte allerdings der Auffassung von Arzt und Beschwerdeausschuss. Nur für die beiden Bluterpatienten sollte der MVZ-Inhaber gerade stehen.
Doch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (SLG) entschied jetzt zugunsten der Kasse: Genese und Zweck der Vorschrift sprächen dafür, dass die Ausnahme von der Apothekenpflicht bei den Präparaten greife und unabhängig von der Art der Anwendung sei. Die Verpflichtung entfalle auch nicht deshalb, weil in der Praxis ein „mit zusätzlichen Kosten verbundenes Medikamentenmanagement“ etabliert werden müsse. Denn diese Aufwendungen fallen laut Gericht unabhängig vom Bezugsweg an – wie Unterlagen des Arztes gegenüber der Gewerbeaufsicht belegten.
Für vertragsärztlich zugelassene Transfusionsmediziner gehörten die sachgerechte Lagerung, Dokumentation und Bereitstellung von Blutprodukten zu den „selbstverständlichen Voraussetzungen der fachärztlichen hämostaseologischen Behandlung gesetzlich Krankenversicherter“. „Insbesondere handelt es sich dabei nicht um eine apothekenähnliche und dem Arzt deshalb gesondert zu vergütende Tätigkeit; vielmehr sind die damit verbundenen Aufwendungen als Bestandteil der allgemeinen Praxiskosten anzusehen, die in die Vergütung der erbrachten vertragsärztlichen Leistungen eingeflossen sind.“
Dass die Kassen mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) im vergangenen Jahr verpflichtet wurden, mit Ärzten „Verträge über die Behandlung von Versicherten mit Gerinnungsstörungen bei Hämophilie" zu schließen, sei eine weitere Bestätigung der Rechtsauffassung. Laut Gesetzesbegründung zählten zu den Leistungen auch die besonderen Aufwendungen zur Vorhaltung der Arzneimittel. „Die Einführung dieser Regelung wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die genannten Praxiskosten in Hämophiliezentren schon vorher – und damit auch in den hier streitbefangenen Quartalen – außerhalb der Gesamtvergütung hätten geltend gemacht werden können.“
Vor allem aber wusste es der Arzt laut Gericht selbst besser: Schon 2005 habe er nämlich mit Krankenkasse über einen Arzneimittelabgabevertrag verhandelt – und zu den damals gültigen Zentrumspreisen abrechnen wollen – unabhängig von der konkreten Abgabeform. Insofern stütze er sich jetzt auf eine Rechtsauffassung, die er erst eingenommen habe, nachdem die Kassen den Abschluss eines Arzneimittelabgabevertrags zu seinen Konditionen abgelehnt hätten. Das LSG wirft dem Arzt sogar vor, den teureren Bezugsweg über die Apotheke bewusst gewählt zu haben, weil er über die Weigerung der Kasse, den Vertrag zu den von ihm gewünschten Konditionen abzuschließen, verärgert gewesen sei und sie auf diese Weise zum Nachgeben habe bewegen wollen.
Laut Gericht ist der Regress trotz des hohen Betrags nicht unverhältnismäßig, weil das BSG bei Regressen grundsätzlich keinen Spielraum sehe. Allerdings müssen bei der neuen Entscheidung noch die Kosten abgezogen werden, die beim Direkteinkauf zusätzlich entstehen. Dazu müsse sich die Kasse quartalsweise die überlicherweise anfallen Personal- und Sachkosten aufschlüsseln lassen.
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