Was ist los bei Noventi? Diese Frage stellen sich nach dem unerwarteten Austausch der Unternehmensspitze viele im Markt. Schnell wird auf anekdotische Fehlgriffe des früheren Managements verwiesen. Doch die Probleme sitzen tiefer, sind struktureller Art. Auch wenn es keinerlei akute Gefahr für das operative Geschäft und damit die Gelder der Apotheken gibt – die Zukunft der Unternehmensgruppe in ihrer heutigen Form ist alles andere als gewiss. Es geht um Finanzkennzahlen und Milliardenkredite.
Innerhalb weniger Tage Anfang September hatte Noventi zunächst gegenüber den Apotheken Preissteigerungen angekündigt und dann recht wortkarg die Abberufung von CEO Dr. Hermann Sommer und Finanzvorstand Victor Castro bekanntgegeben. Die Nervosität im Markt war sofort entsprechend groß, zumal viele ehemalige Kund:innen des insolventen Rechenzentrums AvP vor zwei Jahren zu Noventi gewechselt sind und entsprechend allergisch auf Turbulenzen bei ihrem Abrechner reagieren. Noventi begegnet diesen Ängsten gebetsmühlenartig mit dem Hinweis auf die eigene Zug-um-Zug-Abtretung: Bis zur erfolgten Auszahlung blieben die Apotheken uneingeschränkt Eigentümer der Rezepte bleiben.
Tatsächlich hat Noventi keine Probleme im Tagesgeschäft oder bei der Auszahlung der Gelder. Vielmehr ist die Finanzierung eine Herausforderung: Einerseits erwirtschaftet Noventi mit den zahlreichen Tochtergesellschaften nur geringe Gewinne, sodass schon die reinen Unternehmensverbindlichkeiten von zuletzt 140 Millionen Euro schwer wiegen.
Vor allem aber hat sich Noventi vor einigen Jahren – entgegen dem Rat der früheren Unternehmensspitze – in den Bereich des Factorings begeben, bei dem Milliardenbeträge vorfinanziert werden. Idee war, die Kunden auch für die Zeit nach Einführung des E-Rezepts zu binden, in der das klassische Abrechnungsgeschäft über kurz oder lang an Bedeutung verlieren dürfte.
Doch damit hat sich Noventi in eine schwierige Lage gebracht. Einerseits mussten die Gelder im vergangenen Jahr in die eigene Bilanz genommen werden, sodass die Bilanzsumme sich von 240 auf 1,2 Milliarden Euro vervielfacht hat. Andererseits drohen Noventi bei zu geringer Eigenkapitalquote ein schlechteres Rating und damit höhere Zinsen – vom Dreifachen des bisherigen Satzes ist in Finanzkreisen die Rede.
Der Zeitpunkt ist ohnehin kritisch: Im April muss der Konsortialkredit über 1,3 Milliarden Euro abgelöst werden. Schon jetzt wird mit den Banken unter der Leitung der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (Apobank) darüber verhandelt, wie es weitergeht. Dem Konsortium war im vergangenen Jahr auch die KfW beigetreten – fraglich ist, welcher Zeithorizont hier vereinbart wurde.
Die aktuell rasant steigenden Zinsen sind in dieser Situation alles andere als hilfreich. „Wir sehen die Veränderungen im Markt bei allen Unternehmen, die Factoring betreiben“, sagt Frank Steimel, der seit Frühjahr im Vorstand für den Bereich Finanzen zuständig ist und zuvor bei der Apobank unter anderem den Bereich der Risikoinvestments betreut hatte. „Die Banken teilen unsere Einschätzung. Steigende Zinsen haben einen Effekt auf den zu erwartenden Jahresüberschuss. Dieser wirkt direkt auf das Eigenkapital.“
Details zu den Finanzkennzahlen zum 30. Juni verrät Steimel auf Nachfrage nicht. „Öffentliche Halbjahresberichte gibt es nicht und sind bei nicht börsennotierten Unternehmen auch unüblich.“ Noventi sei aber keine Bank, die Höhe der Eigenkapitalquote unterliege daher keinen regulatorischen Vorschriften und werde stichtagsbedingt betrachtet. „Deshalb kann es immer wieder zu Schwankungen kommen, da diese Werte stark geprägt sind durch das Abrechnungsgeschäft und die Inanspruchnahme der eigens für dieses Geschäft vereinbarten Kreditlinien mit unserem Bankenkonsortium.“ Das sei Teil des Geschäftsmodells, damit die Apotheken früher ausbezahlt werden können.
Ob die Eigenkapitalquote mit Blick auf die in wenigen Monaten anstehende Refinanzierung erhöht werden muss, dazu will Steimel noch keine Angaben machen: „Noventi steht mit allen Banken in einem partnerschaftlichen Austausch. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir dazu keine Details bekannt geben.“
Auf mögliche Maßnahmen zur Stärkung der finanziellen Position angesprochen, verweist Steimel auf die angekündigten Preiserhöhungen: „Um die Zinskosten im Sinne unserer Gesellschafter zu optimieren, prüfen wir sowohl interne Maßnahmen, sind wir aber auch im ständigen konstruktiven Austausch mit unseren Finanzierungspartnern. Zinskostensteigerungen müssen wir daher, wie angekündigt, leider zum Teil an unsere Kunden weitergeben.“ Die Ertragslage im Kerngeschäft sei im ersten Halbjahr stabil gewesen. „Allerdings spüren wir die steigenden Zinskosten deutlich. Daher war eine Anpassung unserer Preisstruktur leider alternativlos.“
Damit sind die Gebührenerhöhung bei der Rezeptabrechnung gemeint, der die Kunden aber mit Widerspruch und Sonderkündigungsrecht auch entgehen können. Über das Ausmaß der bisherigen Abgänge in diesem Zusammenhang gibt es unterschiedliche Angaben. Dem Vernehmen nach hat der Außendienst individuell Spielraum. Für Noventi bedeutet das einen Balanceakt: Hart bleiben und gegebenenfalls Marktanteile opfern oder strategisch nachgeben auf Kosten der Rentabilität. Für diesen Bereich ist im Vorstand der ehemalige Alliance-Manager Mark Böhm zuständig.
Die klassische Rezeptabrechnung zum Factoring-Geschäft auszubauen, an dieser Strategie gab es in der Vergangenheit auch intern Kritik. Doch daran soll jetzt nicht gerüttelt werden: „Das Factoring gehört klar zu unserem Kerngeschäft“, so Steimel. Schmerzhaft könnte das Geschäft bei weiter steigenden Zinsen dennoch werden, weil mit den Apotheken keine variablen Zinsensondern Fixpreise vereinbart wurden. Anfallende Mehrkosten können nun nur über Preisanpassung weitergegeben werden.
Zum Kerngeschäft, auf das sich Noventi konzentrieren will, gehören laut den beiden Managern „die Rezeptabrechnung und Warenwirtschaft sowie ausgewählte Zukunftsfelder“. Zu Letzteren wird offenbar unter anderem die Plattform Gesund.de gezählt, bei der das Engagement unlängst bekräftigt wurde.
Gleichwohl betont Steimel, „dass alle Projekte und Beteiligungen derzeit auf dem Prüfstand stehen“. Und weiter: „Wir werden prüfen, welche Projekte und Beteiligungen angesichts veränderter Rahmenbedingungen wie Kostensteigerungen, Inflation oder Konjunktur fortgesetzt, eingefroren oder eingestellt werden.“
Und hier stellt sich die Frage, von welchen Bereichen sich Noventi überhaupt trennen könnte. Im Bereich der Abrechnung gelten die Sonstigen Leistungserbringer als besonders attraktiv; der Konkurrent ARZ Haan etwa hatte vor Jahren sogar seine Softwaresparte Lauer-Fischer verkauft, um Zukäufe finanzieren zu können. Die Warenwirtschaft wiederum ist bei Noventi seit längerem ein Problemfall: Die Umstellung auf Awinta One scheiterte, sodass ein halbes Dutzend Systeme am Laufen gehalten werden muss. Vor diesem Hintergrund würde sich wohl nur schwer ein Käufer finden lassen.
Die unzähligen Beteiligungen und Aktivitäten des selbsternannten 360 Grad-Anbieters scheinen auch ein Knackpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Sommer und Castro einerseits und dem von Herbert Pfennig angeführten Aufsichtsrat andererseits gewesen zu sein. Denn längst nicht alle Projekte zeitigten den erhofften Erfolg, die Aktivitäten sollen aber vom alten Management gegenüber dem Aufsichtsgremium mindestens „geschönt“ worden sein, andere sprechen von „verschleiert“. Selbst Kritikern ist dabei wichtig zu betonen, dass weder Sommer noch Castro eine persönliche Bereicherung oder unlauteres Verhalten vorgeworfen wird – sehr wohl aber Großmannssucht im Management. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Aufsichtsrat diesen Kurs lange hat laufen lassen.
Ob es am Ende ein singuläres Ereignis gab, das Sommer und Castro den Job kostete, oder ob es eine letzte Schneeflocke war, die den Ast zum Brechen brachte – darüber wird vielsagend geschwiegen. Wenn zwei Vorstände so abrupt und ohne ein Wort des Dankes verabschiedet werden, geht es für gewöhnlich um mehr als die strategische Ausrichtung des Unternehmens.
Der geplante sanfte Übergang von Sommer zu Böhm ist damit passé und das neue Management hat etliche Baustellen. Beim geplanten Umbau des Konzerns setzt Noventi auf den Austausch mit den Banken – und natürlich habe man auch externe Berater an Bord. Ist Noventi ein Sanierungsfall? Diese Frage lässt Steimel unbeantwortet. Mit einem im Markt kursierenden Gerücht kann er allerdings aufräumen: Eine Landesbürgschaft in Bayern habe Noventi weder beantragt noch sei dies geplant.
Umso spannender bleibt die Frage, wie Noventi Mittel freisetzen und die eigene Rentabilität steigern will. Auf konkrete Verkaufsprozesse angesprochen, sagt Steimel nur, dass das Beteiligungsportfolio kontinuierlich geprüft werde, „naturgemäß auf Investments als auch auf Desinvestments“.
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