Noventi steht vor der größten Transformation in der Unternehmensgeschichte. Die Digitalisierung des Geschäftsmodells verschlingt Millionen, Factoring ist der neue Fokus in der Abrechnung. CEO Dr. Hermann Sommer sprach mit APOTHEKE ADHOC über die vorgelegte Bilanz, die Schwierigkeiten mit den Genussscheinen und seine persönlichen Zukunftspläne.
ADHOC: Das E-Rezept wird Ihr Geschäftsmodell massiv verändern. Ist die klassische Rezeptabrechnung ein Auslaufmodell?
SOMMER: Heute gehen mehr als 200 Millionen Belege durch die Scannerstraßen. Als ich vor mehr als zehn Jahren hier ankam, habe ich gedacht: Das Ziel muss sein, dass das in einer anderen Form stattfindet. Bis heute arbeiten wir zweigleisig, haben viel investiert in das E-Rezept und die Vernetzung der einzelnen Leistungserbringer. Und so langsam nimmt es Gestalt an. Aber wir sind sicher, dass das Papier noch in vielen Bereichen Bestand hat – vor allem bei den sonstigen Leistungserbringern.
ADHOC: Verdienen Sie mit der Apothekenabrechnung überhaupt noch Geld oder ist der Wettbewerb überhitzt?
SOMMER: Ja. Wir haben da schöne Ergebnisse, vielleicht macht es die Menge aus. Wir haben hoch automatisiert und bei der Erkennung der Images eine ganz gute Quote was die Nachbearbeitung betrifft. Aber bei den Gebühren ist die Spirale am Boden angekommen. Vor einem Jahr hätte ich gesagt, das geht gegen Null und wird wie bei den Bankkonten irgendwann kostenlos. Heute kann ich mir sogar vorstellen, dass es mal wieder eine Erhöhung gibt.
ADHOC: Weil der Wettbewerb nicht mehr mitgehen kann?
SOMMER: Ich rede ungern über den Wettbewerb, aber die sind schon glaube ich mächtig unter Druck. Die Papierseite ist schon sehr ausgeknautscht und ich behaupte, wir sind mindestens eines von ganz wenigen Unternehmen, das damit noch Geld verdient.
ADHOC: Wenn die Apotheken irgendwann direkt mit den Krankenkassen abrechnen können: Welche Rolle spielt Noventi dann noch?
SOMMER: Eine verstärkte. Wenn das E-Rezept richtig da ist, kommen wir mit neuen Auszahlungsmodellen. Und da unterscheiden wir uns von den anderen Rechenzentren, die klassisch im Treuhandbereich arbeiten. Wir haben uns sehr früh entschieden – das sieht man in der Bilanz – dass wir Richtung Factoring gehen. Wir kaufen auch hart die Forderungen an, ohne Wenn und Aber. Der Kunde entscheidet – möglichst aus der Warenwirtschaft heraus – wieviel Geld er heute braucht. Vielleicht will er sogar Geld anlegen.
ADHOC: Ist das Factoring nicht auf Dauer eine recht riskante Wette?
SOMMER: Factoring ist ein Kauf mit Risiken. Diese Risiken muss man gut beherrschen. Deswegen investieren wir beispielsweise in diesem Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag in die BaFin-Regulatorien. Auf der Grundlage hausinterner Risikobewertung bestimmen wir die Gebühren. Gott sei Dank sind wir in diesem wunderbaren Gesundheitswesen unterwegs und haben fast keine Ausfälle. Wer Sofortgeld erhält oder sogar einen Teil vorab bekommt, muss uns seine Geschäftsprozesse offenlegen. Wir gucken in die Herzstücke der Apotheken, sind viel näher dran als eine Bank und lassen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz errechnen, wie sich der Geschäftsgang sich entwickeln kann. Und darauf machen wir ein Rating und geben dem Kunden das Geld.
ADHOC: Was will Noventi sein? Eine Bank oder ein ehealth-Startup?
SOMMER: Am besten alles! (lacht) Also was wir sicher nicht werden wollen, ist eine klassische Bank mit Anlagengeschäft. Das werden wir anbieten, aber ausgelagert an eine Bank, das wird Noventi nicht selbst tun.
ADHOC: Das bieten Sie nur als Dienstleistung an und sind aus der Haftung auch raus?
SOMMER: Wir gehen schon in gewisser Weise ins Risiko, weil wir ein Zertifikat ausstellen, eine Art Gütesiegel für den Kunden. Je nach Geschäftsgang ändert sich damit jeden Tag, für welchen Betrag er „gut ist“. Und dafür haften wir natürlich, dafür steigen wir ein, das tun wir ja heute schon.
ADHOC: Sie bewegen 30 Milliarden an Abrechnungsvolumen. Beim Gewinn stehen 10 Millionen Euro. Ist Noventi gesund?
SOMMER: Ja, wir sind kerngesund, das kann ich wirklich versichern. Als ich bei meinem ersten Auftritt vor der Vertreterversammlung vor zehn Jahren ein leicht negatives konsolidiertes Ergebnis verkündet habe, hatte ich Prügel erwartet. Stattdessen gab es tosenden Beifall. Der genossenschaftliche Ansatz hieß in der Vergangenheit: Nur so viel verdienen, dass es reicht für die Noventi und dass wir nicht zu viel den Kunden und den Eigentümern in die Tasche greifen. Das haben wir dann Stück für Stück gedreht. Der Peak ist wahrscheinlich in diesem Jahr, in dem wir die höchsten Ausgaben in neue Geschäftsmodelle stecken, das flacht dann ab – also haben wir unser Ergebnis deutlich gesteigert.
ADHOC: Für dieses Jahr ist ein Ergebnis leicht unter dem vergangenen Jahr angepeilt. Danach rechnen sie mit steigenden Gewinnen nach dem Abschluss der Transformation. Gibt es so etwas?
SOMMER: Sie haben recht, die Transformation ist nie zu Ende. Und fünf Jahre vorauszuplanen ist ja schon viel in diesem sich stark wandelnden Umfeld. Aber den größten Berg haben wir dann hinter uns mit der Digitalisierung, wenn das Papierrezept auf vielleicht 10 Prozent heruntergefahren ist. Wir bauen ein sehr großes eigenes IT-System, wo in Echtzeit bis zum Verbraucher Zugriff möglich ist und die Geschäftsvorgänge anstoßen können – egal ob da jemand im Büro sitzt oder nicht.
ADHOC: Braucht Noventi keine höheren Gewinne?
SOMMER: Man muss das Maß finden: Wir sind in dem Factoring-Modell abhängig von der Refinanzierung. Die Banken sehen sich das Geschäftsmodell an sich an und wie stabil es ist, aber sie sehen sich eben auch die Geschäftszahlen an – und da muss man schon eine gewisse Rendite ausspucken. Wir haben unseren Kredit, der bei einer Milliarde war, um mehr als 300 Millionen Euro erhöhen können. Da ist eine Bank mit einem dreistelligen Millionenbetrag ins Risiko gegangen, die zu den Geschädigten der AvP-Pleite zählt. Ich denke, das spricht für sich.
ADHOC: Muss man sich mit Blick auf die Eigenkapitalquote Sorgen machen?
SOMMER: Man muss das unterscheiden. Natürlich haben wir unsere Kreditlinien für das operative Geschäft. Das andere ist das Factoring-Geschäft, da drehen wir Geld durch. Im Apothekenbereich waren wir 2019 bei 16,5 Milliarden Euro und sind in 2021 bei knapp 26 Milliarden Euro. Jeden Monat werden mehr als 2 Milliarden durch die Bankkonten geschleust und das muss finanziert werden. Die Bank schaut nur die Sicherheiten an, also die Forderungen an die Krankenkassen, die dagegen stehen. Dabei ist das Eigenkapital nicht so wichtig. Ich würde sagen, wir sind hier fast schon überreguliert und erfüllen Kriterien, die andere im Markt nicht erfüllen, weil die die Freistellung der BaFin-Regularien nutzen.
ADHOC: Sie wollten 40 Millionen Euro über Genussscheine einsammeln bei den Apotheken. Es sind nur 2,5 Millionen geworden. Hat Sie das überrascht?
SOMMER: Wir haben in der Noventi im gesamten Firmenkonstrukt – ich sage jetzt ein hartes Wort – wir haben einen Baufehler. Die Eigentümer sind keine wirklichen Eigentümer, sondern Vereinsmitglieder. In einem Verein ist man drin und dann geht man wieder weg, einen Vermögensgegenstand im klassischen Sinn oder gar einen Beitrag am Geschäftsergebnis haben Vereinsmitglieder nicht. Es ist seit Jahren eine Diskussion im FSA, wie man den Verein interessanter machen kann. Die Lösung waren Genussscheine.
ADHOC: Wieso ist die Beteiligung dann so gering?
SOMMER: Es kam aus dem Verein der Wunsch, dass jedem Mitglied ein Genussschein in Höhe von 10.000 Euro zugesichert wird, damit jeder zeichnen kann. So leicht kann man aber keine Genussscheine emittieren. Es ist ein bisschen naiv zu erwarten, dass jeder Einzelne die volle Summe zeichnet, die wir dem FSA garantieren mussten. So kam es zu diesem Ergebnis. Hinzu kamen die weltweiten Veränderungen. Der Ukraine-Krieg hat viel Unstabilität in die Märkte gebracht. Dann hat die Inflation zugeschlagen und damit wird es in dieser Form fast unmöglich. Wir arbeiten aber an einem Papier, mit dem wir auf den Markt kommen, wenn sich die Märkte etwas beruhigt haben.
ADHOC: In der zweiten Stufe sollten institutionelle Anleger zum Zug kommen. Müssen Sie angesichts des steigenden Zinsniveaus nachbessern?
SOMMER: Wir können anpassen. Wir loten gerade aus, was etwa für Versorgungswerke interessant wäre. Wann wir damit auf den Markt kommen, ist noch offen, wir haben das erstmal ausgesetzt. Es ging auch die Diskussion los, Noventi brauche Geld und dass wir deswegen Genussscheine emittieren. Ich kann Ihnen versichern: Bei dem Volumen, das wir bewältigen, ist der Betrag, den wir da einsammeln, völlig irrelevant. Wir haben Eigenkapital in Höhe von 84 Millionen Euro – aus Liquiditätsseite brauchen wir das nicht.
ADHOC: Wenn Sie das Geld nicht brauchen und die Gesellschafter das Angebot nicht wollen – warum lassen Sie es nicht einfach?
SOMMER: Die Vertreterversammlung will das schon. Der Zeitpunkt war unglücklich. Das fiel in die Osterzeit und das Angebot war auf Wunsch der Gesellschafter zeitlich begrenzt. Ich will nicht alles auf den Gesellschafter schieben, aber ich glaube die Umstände waren gegen uns. Wir waren auch kurz davor zu sagen: Wir setzen das ab. Auf Drängen des Eigentümers haben wir es dann doch gemacht, naja…
ADHOC: Ist das steigende Zinsniveau insgesamt eine Gefahr für Ihr Geschäftsmodell?
SOMMER: Die Noventi hat immer viel Geld verdient in Zeiten hoher Zinsen. Denn es gibt immer Überhänge. Das fällt uns aktuell auf die Füße, weil wir Verwahrentgelt bezahlen müssen. Aber das ändert sich ja gerade. Insofern glaube ich, dass wir da künftig mehr Geld verdienen werden.
ADHOC: Sie haben gesagt, dass der Umbau Ihr großes Projekt war und Sie jetzt 10 Jahre dabei sind: Wie sind denn Ihre persönlichen Zukunftspläne?
SOMMER: Man muss sich irgendwann die Frage stellen: Wann ist es denn gut? Wann ist man selbst an einem Punkt angekommen, wo die Ideen und die Triebfeder und die Kraft möglicherweise schwächer wird – ein ganz biologischer Vorgang. Mein Vertrag läuft noch zweieinhalb Jahre, den erfülle ich natürlich und dann müssen wir weitersehen.
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