Phytopharmaka

Die schizophrene Arzneimittelsicherheit

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Berlin -

Arzneimittel lindern Krankheiten, Lebensmittel dienen der Ernährung. Soweit die Theorie. In der Praxis gibt es zahlreiche Abgrenzungsprobleme – als zuständige Aufsichtsbehörden haben BfArM und BVL eine gemeinsame Expertenkommission eingesetzt, die die Grenze ziehen soll. Deren Vorsitzender, Professor Dr. Michael Keusgen vom Institut für Pharmazeutische Chemie in Marburg, sieht mit neuen Trends aus Fernost und mit dem zunehmenden Internethandel neue Schwierigkeiten auf sich und seine Kollegen zukommen.

Aktuell beschäftigen Präparate aus der ayurvedischen Medizin die Experten. Die indische Regierung hat eine Liste mit etwa 80 Präparaten erarbeitet, die sie gerne als Nahrungsergänzungsmittel einstuft haben möchte. Doch so einfach ist es nach europäischen Maßstäben laut Keusgen nicht.

„Eine in der ayurvedischen Medizin verwendete Arzneipflanze kann in zwei Kategorien eingestuft werden – in ein zum Beispiel als Gewürz verwendetes Lebensmittel wie Curcuma oder in eine üblicherweise arzneilich verwendete Pflanze wie Rauwolfia“, so Keusgen. Werden Pflanzenteile verarbeitet, die nicht als Lebensmittel dienen, entscheidet die Unbedenklichkeit: „Der Apfel ist ein Lebensmittel, die Rinde des Apfelbaumes jedoch nicht. Nach EU-Recht muss die Rinde daher als Novel-Food eingestuft werden und somit ein Nachweis für ihre Unbedenklichkeit erbracht werden – dass sie für den menschlichen Verzehr geeignet ist.“

Die Liste der indischen Regierung nennt unter anderem Bäume, die Früchte liefern. In der ayurvedischen Medizin wird dann jedoch nicht die Frucht, sondern beispielsweise die Rinde eingesetzt. Nicht immer sind die Wirkungen solcher Teile nach westlichen Maßstäben erforscht.

Aktuell sorgt Curcuma für Diskussionsbedarf. Das Gewürz wird galenisch innovativ zu Nanopartikeln und Mizellen aufgearbeitet. Daher muss geklärt werden, ob von dem unverfänglich aussehenden Produkt nun eine pharmakologische, metabolische und immunologische Wirkung ausgeht. Denn dann würde derart aufgearbeitetes Curcumin zum Arzneimittel. Noch spricht Keusgen dem nicht „veredelten“ Gewürz den Charakter eines Lebensmittels zu. Doch der wissenschaftliche Kenntnisstand kann sich jederzeit ändern.

Doch ganz egal, ob pharmakologisch wirksame Bestandteile enthalten sind oder nicht: Sobald ein Präparat mit Heilversprechen beworben wird, ist es als sogenanntes Präsentationsarzneimittel einzustufen. Nahrungsergänzungsmittel dürfen nur mit gesundheitsbezogenen Aussagen versehen sein, die von der EU-Lebensmittelbehörde EFSA für zulässig erklärt wurden (Health Claims). Diese wiederum müssen durch die Zutaten gedeckt sein – das Produkt muss aber nicht als Ganzes betrachtet werden. Das führt dazu, dass Ginkgo-Produkte mit einer Wirkung beworben werden können, die trotz zu geringer Dosierung mit den ebenfalls enthaltenen B-Vitaminen zu rechtfertigen sind.

Ein weiterer paradoxer Fall ist Vitamin D. Hier sind einige Nahrungsergänzungsmittel höher dosiert als die verfügbaren Arzneimittel – einfach nur deshalb, weil sie eine „softere“ Indikation haben. Zuletzt konnte sich der Sachverständigenausschuss nicht auf eine grundsätzliche Einstufung von hochdosiertem Vitamin D als Arzneimittel verständigen.

Ein anderes aktuelles Thema ist Selen. Das Spurenelement wird in höheren Konzentrationen in der Tumortherapie eingesetzt. Keusgen und seine Experten müssen prüfen, ob eine Erheblichkeitsschwelle einzuführen ist und Präparate oberhalb der Schwelle den Status eines Arzneimittels bekommen. Wenn Selen keine pharmakologische Wirkung aufweisen würde und die Dosierung dennoch in einen toxikologischen Bereich käme, würde es nicht zum Arzneimittel, sondern zunächst zu einem bedenklichen Lebensmittel.

In Apotheken und im Einzelhandel lasse sich der Markt noch vergleichsweise gut kontrollieren, so Keusgen. Neben den Überwachungsbehörden seien es oft Wettbewerber, die Verstöße zur Anzeige brächten. Im Internet sehe die Sache ganz anders aus – hier könne jeder alles relativ gefahrlos verkaufen. Dass ausgerechnet der wachstumsstärkste Vertriebskanal einer Kontrolle weitgehend entzogen sei, sei eine „schizophrene Situation“, so Keusgen. Die Verbraucher trauten den Heilversprechen der Versender – ohne zu wissen, dass sie sich selbst strafbar machten, wenn sie im Ausland Arzneimittel bestellten.

Zuständig für die Überwachung der per Luftfracht eingeführten Waren ist das Regierungspräsidium Darmstadt. Jährlich werden aus den gigantischen Warenströmen etwa 30.000 Sendungen vermeintlicher Arzneimittel herausgefischt und überprüft. Mitunter ist auch Pflanzenmaterial mit pharmakologischer, immunologischer und metabolischer Wirkung dabei, das ohne Zulassung nicht verkehrsfähig ist. Meist bleibt es bei einer Verwarnung.

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