Von Dresden in die ganze Welt Patrick Hollstein, 30.04.2010 21:00 Uhr
„Zweck dieser Handlung wird hauptsächlich der Absatz an die
Apothekerkundschaft sein; doch sollen andere eingeschlagene Geschäfte
und der Absatz an Techniker und Handelsleute Insonderheit für den Anfang
nicht ausgeschlossen sein. Ob und inwieweit ein Platz im
Detail-Geschäft damit zu verbinden ist, soll von der Rücksicht, welche
auf die Apotheker zu nehmen ist, abhängen.“ Der Geschäftszweck des
Stuttgarter Pharmahändlers Celesio wurde vor 178 Jahren formuliert –
und
ist aktueller denn je.
Am 1. Mai 1835 wird in Dresden die „Drogerie- und Farbwarenhandlung Gehe & Comp.“ gegründet. Inhaber des Pharmagroßhandels ist der 25-jährige Kaufmann Franz Ludwig Gehe aus Leipzig, der sich soeben mit seinem Kompagnon, einem Apotheker, überworfen hat. Nachdem er von seinem Bekannten Friedrich List über die Möglichkeiten des geplanten Eisenbahnnetzes erfahren hat, startet Gehe am künftigen Verkehrsknotenpunkt an der Elbe mit drei Mitarbeitern sein eigenes Geschäft.
Von Anfang an schickt Gehe Mitarbeiter auf Reisen zu seinen Kunden – der Apotheken-Außendienst ist erfunden. Vierundzwanzig Jahre später holt Gehe seinen Neffen in die Firma, den Chemiker Dr. Rudolph August Luboldt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigt das Unternehmen mehr als 200 Mitarbeiter und hat laut Stadtchronik den Rang „des ersten pharmazeutischen Drogengeschäftes der Erde“. Gemeinsam steigen die beiden Unternehmer zusätzlich zum Vertrieb in die Veredelung von Rohdrogen und die Produktion von chemisch-pharmazeutischen Ausgangsstoffen ein – gegen den Widerstand einiger Apotheker.
Nach dem Tod des kinderlosen Firmengründers im Jahr 1882 führt Luboldt das Geschäft fort. Dessen Sohn wird der letzte Repräsentant der Familie im Unternehmen sein: Ebenfalls ohne Nachfolger, bringt Dr. Walter Luboldt die Firma 1904 an die Börse und steigt aus der Geschäftsführung aus.
1922 gründet Gehe die erste Niederlassung auf eigenem Gelände in Stuttgart, die später der Nukleus für den Neubeginn sein wird. Denn das Stammhaus in Dresden sowie die Niederlassungen in Chemnitz, Halle/Saale, Breslau und Krakau gehen unter sowjetischer Besatzung verloren. Mit einer neuen Hauptverwaltung in München und den Vertriebszentren in Stuttgart, Kassel und Sulzbach-Rosenberg startet Gehe neu.
1973 wird der Duisburger Mischkonzern Haniel Mehrheitsaktionär bei Gehe. Die Familiendynastie übernimmt ein Aktienpaket von der Dresdner Bank und bringt ihre ab 1969 erworbenen regionalen Pharmagroßhandlungen in das Unternehmen ein. 1981 wird der Firmensitz nach Stuttgart verlegt, die heutige Hauptverwaltung im Stadtteil Bad Cannstatt wird 1987 bezogen.
Anfang der 1990er-Jahre steigt Gehe durch die Übernahme von Azuchemie, Aliud, Allphamed und Jenapharm in die Pharmaproduktion ein und 1996 wieder aus - ein Zugeständnis an die Industrie.
Stattdessen beginnt die internationale Expansion. Gehe ist nach der Übernahme der französischen OCP im Jahr 1993 der größte europäische Pharmagroßhändler – erst 2008 verliert der Konzern diese Stellung an Phoenix. Wie in Mannheim ist man auch in Stuttgart im Einkaufsfieber: Zu Großhandelstöchtern in Belgien, Frankreich, Portugal und Tschechien kommen 1995 mit dem britischen Großhändler AAH die ersten Apotheken.
1999 wird der langjährige Rechtsberater des Unternehmens, Dr. Fritz Oesterle, zum Konzernchef berufen. Im selben Jahr gründet Gehe durch die Zusammenlegung seiner britischen Töchter die größte Apothekenkette in Europa. In den Folgejahren werden in Tschechien, Italien, Belgien, Irland, den Niederlanden und Norwegen Apotheken gekauft.
Zur Jahrtausendwende gelingt Gehe im Wettstreit mit der Sanacorp die Mehrheitsübernahme der österreichischen Genossenschaft Herba Chemosan. Deren Vorstandschef Wolfgang Mähr ist heute bei Celesio für das Großhandelsgeschäft verantwortlich.
2003 erhält die bereits zehn Jahre zuvor eingeführte Konzernholding den Kunstnamen Celesio. Im Wettrennen um die Kontrolle über die Anzag übernimmt Celesio von der DG-Bank ein rund 13-prozentiges Aktienpaket am Frankfurter Mitbewerber. Eine vereinbarte Call-Option zugunsten der Sanacorp läuft später aus, weil das Bundeskartellamt der Genossenschaft die Mehrheitsübernahme untersagt. Bis 2006 kauft Celesio noch Großhändler in Slowenien, Portugal und Dänemark, 2009 folgt der Einstieg in den brasilianischen Markt.
Der spektakulärste Streich ist jedoch die Übernahme der niederländischen Versandapotheke DocMorris im April 2007. Weil deren Apotheke in Saarbrücken Gegenstand eines Vorlageverfahrens beim Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist, steht der Stuttgarter Pharmahändler plötzlich im Licht der Öffentlichkeit. Was zu diesem Zeitpunkt unbekannt ist: Bereits 2004 hat sich der Konzern bei der EU-Kommission über italienische Regelungen zum Besitz von Apotheken beschwert. Der EU-Zug rollt – aber am Ende nicht in Richtung Bad Cannstatt.
„Wenn Bahnen gar nicht mehr zum notwendigen Ziele führen, müssen sie verlassen werden“, zitierte Konzernchef Oesterle vor drei Jahren den Firmengründer beim Festakt in Dresden. Wie die unternehmerischen Erben dieses Vermächtnis auslegen werden?