Die Freie Ärzteschaft (FÄ) freut sich über die Ergebnisse der neuen EPatient Survey – die kam nämlich zu dem Ergebnis, dass die Nutzerzahlen der Telemedizin weit hinter den bisherigen Erwartungen zurückbleiben. Für den FÄ-Vorsitzenden Wieland Dietrich ist das eine Bestätigung seiner Auffassung: Den meisten Patienten sei klar, „dass Telemedizin bei Weitem nicht die gleiche Qualität erreichen kann“ wie eine klassische Sprechstunde vor Ort.
Die Zahl der Patienten, die sich im vergangenen Jahr telemedizinisch haben behandeln lassen, hat sich laut der am Montag veröffentlichten Studie fast verdreifacht – das klingt erst einmal nach einem großen Erfolg für die Branche. Die FÄ, bekannt als entschiedener Gegner der Online-Behandlung, begrüßt das dennoch als „die Rückkehr zur patientennahen Medizin“. Denn es handelt sich um die Verdreifachung eines denkbar niedrigen Niveaus: von 0,7 Prozent der Befragten auf rund 2 Prozent. „Wenn aktuell auch durch Corona lediglich 2 Prozent der Befragten Online-Sprechstunden nutzen, ist das ein für mich ernüchterndes Ergebnis“, kommentierte Studienautor Dr. Alexander Schachinger entsprechend.
Was Schachinger ernüchtert, erfreut Dietrich: „In der Corona-Pandemie wird deutlich, dass Onlinesprechstunden per Video keine tragfähige Alternative zur Patientenbehandlung im realen Raum sind, sondern lediglich ein Behelf für besondere Situationen“, sagt er. „Die von der IT-Lobby gepushte Telemedizin ist entzaubert worden.“ Es habe sich durch die Krise offenbart, „wie schnell die Videosprechstunde an ihre Grenzen kommt und letztlich kaum mehr leisten kann als ein Telefonat“.
Und Dietrich wird noch deutlicher: Man könne meist gar nicht von Behandlung sprechen, „das ist in der Regel nur Beratung“. Tatsächliche Behandlungen, Untersuchungen, Vorsorgen und Check-ups könnten per Video gar nicht umgesetzt werden und hätten daher in den vergangenen Wochen oft nicht stattgefunden. So seien körperliche und apparative Untersuchungen, Blutabnahmen oder Abstriche per Telemedizin schlicht unmöglich. Das betreffe sowohl die Diagnostik und Behandlung ganz normaler Krankheiten als auch von Covid-19-Erkrankungen. Dass sich die meisten Telemedizin selbst nur als Ergänzung zur Vor-Ort-Behandlung sehen und ebenfalls darauf verweisen, dass ihre Angebote vor allem für bestimmte leichte Indikationen geeignet sind, erwähnt Dietrich nicht.
„Auch bestimmte Patientengruppen, wie alte und schwerkranke Menschen, Kinder sowie Patienten ohne IT-Zugang können die Telemedizin oft gar nicht nutzen“, so Dietrich. Bei der Convenience – ein wichtiges Argument von Telemedizin-Anbietern – sieht der Dermatologe ebenfalls keinen Gewinn durch Zava, Kry & Co. „Berichten und Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten zufolge“ würden Videosprechstunden nämlich im Vergleich zum Arzt-Patienten-Kontakt in der Praxis oft die doppelte Zeit benötigen, um zu einem vernünftigen Beratungsergebnis zu kommen. „Denn die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Arzt und Patient sind stark eingeschränkt – sowohl auf der psychosozialen als auch individualtherapeutischen Ebene“, so der FÄ-Vorsitzende. Aus gutem Grund habe der Deutsche Ärztetag auf Initiative der FÄ die reale Arzt-Patienten-Behandlung klar als „Goldstandard“ definiert.
Dass die Studienergebnisse also nun zur Enttäuschung der Anbieter ausfielen, sei für ihn keine Überraschung. Das liege vor allem daran, dass den meisten Menschen die Unzulänglichkeiten von Online-Behandlungen bewusst seien. „Den meisten Patientinnen und Patienten ist klar, dass Telemedizin bei Weitem nicht die gleiche Qualität erreichen kann“, so Dietrich. „Letztlich haben die ausgebliebenen Behandlungen in den Praxen ein erhebliches qualitatives und quantitatives Defizit bei der medizinischen Betreuung der Bevölkerung hinterlassen, dass nun aufzuarbeiten und zu heilen ist.“
Die Studienautoren selbst interpretieren die Ergebnisse anders. Die aktuelle Studie – mit 9700 Befragten nach eigenen Angaben die größte ihrer Art – habe nämlich gezeigt, dass die Nachfrage regional und soziokulturell stark variiert. Videosprechstunden werden demnach hauptsächlich dort weniger genutzt, wo sie am notwendigsten wären, nämlich in strukturschwachen Regionen. „Die Ursache für die regionale Spreizung liegt auf der Hand: Mangelnder Breitbandausbau“, so EPatient Analytics. So habe jeder fünfte Nutzer angegeben, dass er Übertragungsschwierigkeiten hatte. Entsprechend würden Videosprechstunden auch im breitbandstarken Süden der Republik mehr genutzt als im Norden. „Der Plan der Politik mit dem digitalen Arzt Versorgungslücken zu schließen, platzt aufgrund des seit Jahren stagnierenden Breitbandausbaus“, resümieren die Marktforscher.
APOTHEKE ADHOC Debatte