Ausgangsbeschränkung und Kontaktverbot zum Trotz: Experten rechnen damit, dass sich die Corona-Krise über Monate hinzieht oder dass es spätestens im Herbst zu einer zweiten Welle kommt. Das könnte gravierende Folgen haben, denn dann kommt auch die Grippe- und Erkältungssaison in Gang. Das Fenster, um später Risikogruppen umfassend gegen Influenza impfen zu können, schließt sich gerade. Und ohne die Apotheker wird es kaum gehen, doch die haben das Thema offenbar aus dem Blick verloren.
Was vielen Menschen derzeit fehlt, ist eine Orientierung, wie es im Kampf gegen Corona langfristig weitergeht. Der Shut Down lähmt die Wirtschaft, doch die seit März ergriffenen Maßnahmen könnten nur Vorgeplänkel sein: Denn gerade im Herbst die Menschen wieder in Schulen, ÖPNV und Büros zu entlassen, wenn die Erkältungssaison beginnt, klingt noch weitaus riskanter als die derzeitigen Lockerungen.
Noch wissen Experten nicht, ob die Aktivität des Coronavirus im Sommer abnimmt und ob stattdessen im Herbst mit einer zweiten Welle gerechnet werden muss. Die Auswirkungen könnten fatal sein: Einerseits sind die Menschen in der kalten Jahreszeit ohnehin anfälliger für Atemwegserkrankungen, andererseits könnte Sars-CoV-2 im Zusammenspiel mit den saisonalen Erkältungsviren zu schwerwiegenderen Verläufen führen.
Und dann wäre da noch das Influenzavirus. Laut Robert Koch-Institut (RKI) verursachen die saisonalen Grippewellen zwischen einer und sieben Millionen zusätzliche Arztkonsultationen, in Jahren mit ausgeprägter Saison auch deutlich mehr. Nach Schätzungen erkranken pro Jahr zwischen zwei und 14 Millionen Menschen an Influenza. Da wie bei Corona nicht jeder Infizierte erkrankt wird die Zahl der Infektionen sogar auf 4 bis 16 Millionen Menschen geschätzt, was 5 bis 20 Prozent der Bevölkerung entspricht. Die Zahl der Todesfälle schwankt je nach Ausprägung stark, von mehreren hundert bis über 20.000.
Im schlimmsten Fall könnten im Winter Corona- und Influenza-Patienten mit besonders schweren Verläufen um die Intensivbetten in den Kliniken konkurrieren – womit das Gesundheitssystem selbst bei einer halbwegs kontrollierten Corona-Ausbreitung schnell wieder an die Belastungsgrenze käme.
In den USA macht man sich über dieses Szenario bereits Gedanken. Dr. Robert Redfield. Direktor der Centers for Disease Control (CDC), sprach sich in dieser Woche dafür aus, die Durchimpfungsrate in der Bevölkerung gegen Influenza dringend zu erhöhen, damit Ende des Jahres weniger Menschen in die Krankenhäuser kommen und mehr Kapazitäten für Covid-19-Patienten frei bleiben.
So weit scheint man in Deutschland noch nicht zu sein. Ende vergangenen Jahres hatten die Vorbestellungen begonnen, eigentlich sollte das Procedere bis Mitte Januar abgeschlossen sein. Doch die Hersteller haben die Frist mehrfach verlängert, bei Sanofi können sogar noch bis 30. April die bisherigen Bestellmengen erhöht werden. Das Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hamburg forderte die Ärzte Anfang April dazu auf, ihre bisher bestellte Menge an Grippeimpfstoffen für die Saison 2020/2021 „noch einmal kritisch“ zu prüfen. Das RKI habe darauf hingewiesen, dass nach Aussage der Impfstoffhersteller wohl noch nicht alle Arztpraxen bestellt hätten, und darum gebeten, hierüber zu informieren und um schnellstmögliche Bestellung zu bitten. Ziel sei es, die Inanspruchnahme von Ressourcen des Gesundheitssystems für impfpräventable Erkrankungen auf ein Minimum zu reduzieren.
Doch noch immer scheint die besondere Bedeutung der Grippeimpfung vor dem Hintergrund von Corona verkannt worden zu sein. Die KV Rheinland-Pfalz wies die Ärzte noch Mitte April an, nicht mehr als 95 Prozent des tatsächlichen Verbrauchs der Vorjahressaison zu bestellen. In Bayern gilt die Grenze von 100 Prozent, in anderen KV-Bezirken wie Thüringen wurden die Ärzte immerhin auf die vereinbarte Quote von 110 Prozent hingewiesen. Hintergrund ist die Sorge vor Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Laut KV Rheinland-Pfalz sollten die Ärzte lieber die Nachfrage abwarten: „Sollte sich im Laufe der Saison 2020/2021 herausstellen, dass die Nachfrage nach Grippeschutzimpfungen höher ist als in der vergangenen Saison, können selbstverständlich Impfstoffe bedarfsgerecht nachbestellt werden.“
Das ist freilich problematisch, den schon in den vergangenen Jahren war kaum mehr Impfstoff zu beschaffen. Da die meisten Vakzine nach wie vor auf bebrüteten Hühnereiern hergestellt werden, brauchen die Hersteller bei der Produktion ausreichend Vorlauf. Danach geht es nur noch um Umverteilung. Beim Pneumokokken-Impfstoff konnte man dies vor wenigen Wochen sehen: Kurz nachdem das RKI Ende Februar den Corona-Risikogruppen die Impfung empohlen hatte, um eine Superinfektion zu vermeiden, war der Impfstoff ausverkauft. Per Notdekret konnten Dosen aus Japan importiert werden.
Dass Deutschland geradewegs auf diese Situation zusteuert, zeichnet sich bereits ab: Beim Jour fixe zum Thema Lieferengpässe gab das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Anfang April zu Protokoll, dass die über das neue Meldeverfahren erhobenen Bedarfsmengen noch unter der prognostizierten Menge liegen. „Hier wird in Abstimmung mit dem geprüft, ob für die kommende Saison noch nachjustiert werden muss, damit eine ausreichende Versorgung sichergestellt werden kann.“
Tatsächlich müsste die Sache wohl von oberster Stelle geklärt werden. Denn nach Schätzungen lassen sich nur rund 35 Prozent der älteren Menschen, die neben Schwangeren, Risikogruppen und medizinischem Personal zur Zielgruppe gehören, regelmäßig gegen Influenza impfen. Im Haus von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dürfte es aber erhebliche Vorbehalte geben, kurz nach der Masernimpfung eine weitere Impfpflicht einzuführen.
Ein Zeichen hat Spahn mit seinem zweiten Corona-Gesetzespaket gesetzt: Ärzte und PEI sollen 30 Prozent mehr Grippeimpfstoff ordern können – was die Kassen prompt als unzweckmäßig und überlegt zurückgewiesen haben. Statt einfach nur mehr Impfstoff zu bestellen, müsse ein Konzept her, wie die Impfquote dann auch tatsächlich erhöht werden könne.
Eine Möglichkeit wäre die Impfung in der Apotheke, denn auch wenn die Ärzte davon wenig halten, so zeigt sich doch, dass noch mehr Impfungen in den Praxen kaum zu bewältigen wären. Kurz vor Weihnachten hatte die Apotheker tatsächlich erstmals die Möglichkeit erhalten, ihre Kompetenzen und Aufgaben im Rahmen von Modellprojekten für Grippeschutzimpfungen zu erweitern. Modellprojekte gibt es aber noch nicht, womit ausgerechnet jetzt die Chance verstreichen zu droht.
Ein koordiniertes Vorgehen wäre auch für die Hersteller wichtig. Denn statt 15 bis 20 Millionen Impfdosen müssten bei einer Ausweitung deutlich mehr produziert werden. Zwar steht neben den Klassikern Vaxigrip Tetra (Sanofi), Influsplit Tetra (GlaxoSmithKline) und Influvac Tetra (Mylan) in dieser Saison auch wieder Flucelvax Tetra (Sequirus) zur Verfügung. Doch die Firmen können derzeit nur anhand der Vorbestellungen der Ärzte planen – denen die Pandemievorsorge wohl kaum alleine überlassen werden kann.
Dazu kommt, dass mit „B/Phuket/3073/2013 (B/Yamagata lineage)-ähnliches Virus“ ein neuer Stamm in die Zusammensetzung nach Weltgesundheitsorganisation aufgenommen wurde.
Offiziell nennt kein Unternehmen eine Maximalmenge, die überhaupt produziert werden könnte. Sobald ein Corona-Impfstoff entwickelt ist, könnten massiv Kapazitäten dafür abgezweigt werden müssen. Und Deutschland ist nicht das einzige Land, das ab Herbst gegen Corona und Influenza zu kämpfen hat: Weltweit gibt es pro Jahr nach Schätzungen rund zehn Millionen stationierte Influenza-Patienten und 650.000 Tote. Einher damit geht eine bis zu zehnfach höhere Rate für Herzinfark und Schlaganfall. Über die Grippeimpfung sollte schnellstmöglich diskutiert werden, bevor es zu spät ist.
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