Vertanical will den Schmerzmittelmarkt umkrempeln. Das bayerische Unternehmen von Dr. Clemens Fischer führt die nach eigenen Angaben weltgrößte Zulassungsstudie für ein Cannabis-Fertigarzneimittel durch: Bis 2023 will es die Zulassung für ein Vollspektrumextrakt zur Behandlung chronischer Rückenschmerzen. Den Apotheken ist das Produkt bereits bekannt, nämlich als Rezepturausgangsstoff.
Die Indikation ist dabei nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht weise gewählt. „Rückenschmerzen sind die Volkskrankheit schlechthin“, erklärte Fischer am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie. Allein in Europa würden 25 Millionen Menschen mit chronischen Kreuzschmerzen kämpfen, in Deutschland seien Rückenschmerzen die nach Atemwegsinfektionen am häufigsten ärztlich attestierte Ursache für Krankschreibung und Arbeitsunfähigkeit. Und die Zahl der Patienten steige kontinuierlich an.
Doch noch ein anderer Punkt spreche stark für die Indikation: Aktuell stünden Ärzt:innen für die notwendige medikamentöse Langzeittherapie nur Opioide zur Verfügung. „In den vergangenen 20, 30 Jahren gab es keine Innovationen bei Pharmazeutika gegen Rückenschmerzen“, erklärt Professor Dr. Lothar Färber, Pharmakologe und langjähriger Chefwissenschaftler bei Novartis, der an der Studie beteiligt ist. Doch Opioide sind – vor allem auf Dauer – harter Tobak: teils schwere Nebenwirkungen und die Gefahr der Abhängigkeit gehen damit einher.
Rund 70 Prozent der Patienten würden über Obstipation klagen, hinzu kommen Schwindel und Übelkeit oder schlimmstenfalls Atemdepression. Die Gefahren des Suchtpotentials wiederum illustriert Fischer am Beispiel USA, wo alle elf Minuten ein Mensch an den Folgen des Opioidmissbrauchs sterbe: „In Deutschland haben wir natürlich noch keine Opioidkrise, aber wir haben mehr als 20 Millionen Opioidverordnungen im Jahr. Im Verhältnis ist der Abstand zu den USA nicht mehr so groß.“
Auch in Europa gebe es jährlich 8000 Opioid-Tote und 1,3 Millionen suchtgefährdete Patienten. Dabei würden je nach Literatur 20 bis 25 Prozent aller Opioidverordnungen bei Rückenschmerzen ausgestellt. 14 Milliarden Euro betrage deren Gesamtumsatz.
Diesen Markt will Vertanical künfitg aufrollen: Im Mai ist die zulassungsrelevante doppelblinde und placebokontrollierte Phase-III-Studie mit 800 Patienten und 100 Schmerzzentren in Deutschland und Österreich gestartet. Das Vertanical-Vollextrakt wird darin nicht als Add-on, sondern als Einzeltherapie untersucht. Teilnehmende Patienten müssen andere Schmerzmittel mindestens zwei Wochen vor Beginn absetzen und andere Therapien acht Wochen vorher. Die tägliche Dosis liegt bei 2,5 bis 32,5 mg der öligen Lösung, die die Patienten nach eigenem Bedarf in Schritten à 2,5 mg bis zur gewünschten Wirkung nach oben titrieren.
Über 100 Millionen Euro will Vertanical für die Studie ausgeben, allein für die Auswahl der richtigen Pflanze seien bereits Millionen investiert worden, um nicht nur das perfekte THC-/CBD-Verhältnis zu finden, sondern vor allem die richtige Zusammensetzung der Terpene. Erste Ergebnisse sollen 2022 vorliegen, das Studienende ist für das zweite Quartal 2023 geplant. Noch im selben Jahr soll die europäische Zulassung im dezentralen Verfahren erteilt werden. Zum Markennamen und angestrebten Marktantweilen will Fischer sich noch nicht äußern.
Die Grundsubstanz ist bereits seit Herbst 2019 als Vertanical Vollextrakt auf dem Markt, nur eben als Rezepturausgangsstoff. Für dieses Jahr rechne Vertanical dabei mit 4 bis 5 Millionen Euro Umsatz und starken Zuwächsen ab dem kommenden Jahr. „Wir sind mittlerweile die Nummer 2 im Vollextraktmarkt“, so Fischer.
Mit der Zulassung als Fertigarzneimittel würde der Herstellungsschritt in der Apotheke also wegfallen. Gerade aus Ärzte- und Patientensicht hätte die geplante Zulassung allerdings einen erheblichen Vorteil: Anders als bisher fiele bei der Verordnungen die Vorabprüfung durch den MDK weg, „was ein riesiger Schritt für die Ärzte da draußen ist“, wie Fischer sagt. Der erleichterte Zugang würde auch Vertanical helfen: „Es gibt über 25 Millionen Rückenschmerzpatienten. Die wollen wir bedienen“, sagt Fischer.
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