Dass ein Hersteller gegen das Bundesgesundheitsministerium (BMG) beziehungsweise die Bundesrepublik prozessiert, kommt äußerst selten vor. Einerseits sind die Kataloge der rechtlichen Möglichkeiten bewusst schmal gehalten. Andererseits weiß man nie, mit welchen politischen Folgen für sich als Unternehmen und die gesamte Branche man rechnen muss. Hexal fasste sich Ende 2014 ein Herz und klagte auf Entlassung von Desloratadin aus der Verschreibungspflicht. Das Verfahren hat der Konzern zwar verloren – in der Sache aber trotzdem einen wichtigen Erfolg errungen.
Im Juni 2012 hatte Hexal die Zulassung für ein Präparat mit dem Wirkstoff Desloratadin erhalten. Das Original Aerius von MSD Sharp & Dohme war seit 2001 auf dem Markt, der Patentschutz damit abgelaufen. Im März 2013 beantragte der Generikakonzern die Entlassung des Antihistaminikums aus der Verschreibungspflicht. Lorano (Loratadin) war als Marke platziert, mit Deslorano hoffte man in Holzkirchen einen Anschlusserfolg hinlegen zu können.
Zur Begründung führte Hexal aus, dass Desloratadin der führende antiallergische Wirkstoff in Europa sei, seine Verträglichkeit in mehr als zehnjähriger breiter Anwendung unter Beweis gestellt und sich als Substanz mit sehr gutem Sicherheitsprofil erwiesen habe.
Der zuständige Sachverständigenausschuss gab im Juni 2013 grünes Licht und sprach sich mehrheitlich dafür aus, Desloratadin in der oralen Anwendung zur symptomatischen Behandlung bei allergischer Rhinitis und Urtikaria bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ab zwei Jahren aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Die Experten empfahlen dem BMG, eine entsprechende Änderung in der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) umzusetzen.
Doch es passierte nichts. Ende Oktober 2013 erkundigte sich Hexal beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als zuständiger Behörde nach dem aktuellen Stand, die Anfrage wurde an das BMG weitergeleitet. Das Ministerium teilte zwei Wochen später überraschend mit, dass es das Votum des Sachverständigenausschusses vorerst nicht umsetzen werde. Zur Begründung hieß es, dass eine Entlassung aus der Verschreibungspflicht nur für die national zugelassenen Arzneimittel wirksam würde, nicht aber für die von der EU-Kommission zugelassenen und ebenfalls in Deutschland im Verkehr befindlichen Präparate.
Da es der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln wäre, dass Arzneimittel mit dem gleichen Wirkstoff, der gleichen Wirksamkeit, der gleichen Wirkstärke und Darreichungsform sowie der gleichen Indikation unterschiedliche Verkaufsabgrenzungen aufwiesen, verzichte man so lange auf eine Umsetzung, wie die Verschreibungspflicht für die zentral zugelassenen Desloratadin-Präparate Bestand habe.
Im Januar 2014 forderte Hexal das BMG noch einmal auf, das Votum des Sachverständigenausschusses umzusetzen: Nach der Abstimmung der Experten stehe fest, dass Gründe zur Unterstellung von Desloratadin unter die Verschreibungspflicht nicht mehr vorlägen. Das BMG sei zu einer Änderung verpflichtet, da ansonsten die Grundrechte der pharmazeutischen Unternehmen eingeschränkt würden. Ein unterschiedlicher Abgabestatus von national und zentral zugelassenen Arzneimitteln mit identischem Wirkstoff sei systemimmanent. Außerdem sei der Öffentlichkeit die dauerhafte parallele Vermarktung verschreibungspflichtiger und nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel mit identischem Wirkstoff und nur geringen Unterschieden beispielsweise in Indikation oder Packungsgröße bekannt.
Nachdem eine weitere Antwort des BMG keine neuen Erkenntnisse brachte, erinnerte Hexal daran, dass die Verkaufsabgrenzung der national zugelassenen Arzneimittel eine rein nationale Entscheidung sei und dass etwa in Dänemark und Finnland Desloratadin-Filmtabletten deshalb trotz der bestehenden zentralen Zulassungen bereits aus der Verschreibungspflicht entlassen worden seien.
Das BMG versprach, die EU-Kommission um eine Stellungnahme zu bitten. Doch obwohl Brüssel kein Problem sah, erklärte das Ministerium im Oktober 2014 – also nach einjährigem Schriftverkehr – erneut und abschließend, das Votum trotzdem nicht umzusetzen: Es könne aus Gründen der Arzneimittelsicherheit für die Verkaufsabgrenzung keinen „gespaltenen Markt“ wirkstoffgleicher Präparate geben, wenn diese auch die gleiche Indikation, die gleiche Darreichung und die gleiche Dosierung sowie mindestens eine vergleichbare Darreichungsform aufwiesen.
Hexal erhob Klage – mit dem Ziel, einen Anspruch auf Entlassung von Desloratadin aus der Verschreibungspflicht durch Streichung des Wirkstoffs in der AMVV zuerkannt zu bekommen. Das BMG hielt die Klage für unzulässig, da kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis existiere: Als Adressat der strittigen Norm könne sich der Hersteller nur gegen den Normanwender wenden, nicht aber gegen den Normgeber. Für die Durchsetzung der Arzneimittelsicherheit seien die Bundesländer zuständig.
Vor dem Oberverwaltungsgericht NRW kam das Verfahren jetzt zum Abschluss. Wie das BMG hielten die Richter die Klage für unzulässig, da ein Verwaltungsvollzug möglich sei: Sobald man als Hersteller ankündige, sein Produkt trotz Verschreibungspflicht in die Sichtwahl zu bringen, müssten die zuständigen Überwachungsbehörden der Länder einschreiten – schon existiere ein konkretes streitiges Rechtsverhältnis, das von Gerichten zu überprüfen sei.
Allerdings räumten die Richter ein, dass die Erfolgsaussichten für einen effektiven Rechtsschutz auf diesem Weg zweifelhaft seien – nicht weil die Länder die AMVV selbst nicht ändern könnten, wie Hexal argumentiert hatte, sondern weil die Behörden sich nach der Zulassung und nicht nach den dahinter stehenden Regelungen richten müssten.
Viel einfacher sei daher der Weg über das BfArM. Im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens könne der Hersteller nämlich überprüfen lassen, ob er verpflichtet sei, sein Produkt als verschreibungspflichtig zu vermarkten und entsprechend zu kennzeichnen. „Gegenstand der Klage ist dabei allerdings nicht die Norm selbst, sondern es sind vielmehr die von deren Gültigkeit abhängenden Rechte und Pflichten“, heißt es in der Urteilsbegründung. „Die Gültigkeit der Norm wird dabei inzident im Rahmen der Frage, ob wegen der Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit der Norm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet ist, überprüft; sie ist inzident zu prüfende – wenn auch streitentscheidende – Vorfrage.“
Für Hexal beginnt damit das Verfahren von vorne: Änderungsanzeige stellen, Widerspruch einlegen, durch die Instanzen klagen. Womöglich wird Desloratadin schneller von der EU-Kommission aus der Verschreibungspflicht entlassen als in diesem langwierigen Prozess.
Doch auch wenn sich der Aufwand im konkreten Fall nicht gelohnt hat: Für OTC-Switches im Allgemeinen hat das Verfahren eine grundlegende Neuerung gebracht. Erstmals wurde nämlich festgestellt, dass der Vertriebsstatus über das BfArM auf die Probe gestellt werden kann. „In der Vergangenheit war es ein ganz schwieriger Weg, sein Recht auf Selbstmedikation einzuklagen“, sagt ein Experte. „Das Urteil markiert den Startschuss für behördliche OTC-Switches. Und das ist doch prima.“
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