Amazon und der Apothekenmarkt: Weltweit rätselt die Branche über die Pläne des Internetriesen für den Einstieg ins Arzneimittelgeschäft. Ist der Bereich nur ein Nebenkriegsschauplatz oder ein strategisches Segment? Nach einem Bericht von CNBC plant der US-Konzern den ganz großen Wurf: „1492“ lautet – offenbar in Anlehnung an die Entdeckung Amerikas – der Codename für das Projekt, das die gesamte Gesundheitsversorgung digitalisieren soll. Die Investmentbank Goldman Sachs hat fünf Szenarien für den Apothekenmarkt durchgespielt.
Im Großraum Seattle testet Amazon seit vergangenem November seinen Schnelllieferdienst „Prime Now“ für OTC-Medikamente und Gesundheitsprodukte; Partner ist die Apothekenkette Bartell Drugs. In Japan hat sich der Konzern mit den Filialisten Cocokara Fine und Matsumotokiyoshi zusammengetan, in München gibt es eine Kooperation mit Bienen-Apotheker Michael Grintz. Auch in anderen Ländern treibt die Branche das Thema um: Was will Amazon? Wie sollte sich die Branche am besten auf den zu erwartenden Frontalangriff vorbereiten?
Goldman Sachs hat für die USA verschiedene Szenarien durchgespielt. 560 Milliarden Dollar Bruttoumsatz lockten alleine im Heimatmarkt des Internetriesen, das entspricht 445 Milliarden Dollar nach Abzug der Herstellerrabatte. Rund 135 Milliarden Dollar – also 30 Prozent des Gesamtvolumens – werden als Rohertrag entlang der Lieferkette verteilt. Der Markt legte in der vergangenen fünf Jahren jeweils um 5 Prozent zu, die demografische Entwicklung verspricht weiteres Wachstum.
Im Grundsatz sehen die Banker den Apothekenmarkt als prädestiniert für die digitale Disruption: viele Wiederholungskäufe, fehlende Preistransparenz, hohe Zuzahlungslast für die Versicherten. Außerdem sei es bislang keinem Versandhändler gelungen, ein rundum zufriedenstellendes Angebot für die Kunden zu entwickeln. Im Gegenteil: Viele Apothekenketten hätten ihre Preise angepasst und damit der Konkurrenz den einzigen Wettbewersvorteil abspenstig gemacht. Aus diesem Grund sei der Anteil des Versandhandels von 17 auf 12 Prozent gesunken.
Amazon komme mit seiner Stärke gerade recht: Dank Logistikinfrastruktur und Erfahrung als Versandhändler könne der Konzern die Lieferung beschleunigen und den Service für die Kunden verbessern. Via Plattform könnten die Prozesse vereinfacht werden: Eine Anweisung an Alexa oder ein Klick auf den Dash-Button – und schon werden fehlende Medikamente nachbestellt. Gleichzeitig könnte der Gigant die Preise und Zuzahlungen deutlich reduzieren. Goldman Sachs geht davon aus, dass der Einstieg von Amazon dem Versandhandel wieder zu Wachstum verhelfen kann und dass über die Plattform und damit verbundene Apps auch die Therapietreue verbessert werden kann.
Auf der anderen Seite gibt es laut Goldman Sachs zahlreiche Herausforderungen, die den Marktzugang erschweren. Neben den regulatorischen Hürden und der fehlenden Möglichkeit der Einflussnahme auf die Rx-Preise wird vor allem der hohe Grad der Konsolidierung genannt. Ohne Kunden kein Volumen, ohne Volumen keine Rabatte, ohne Rabatte keine Kunden, so die schlichte Kalkulation.
Den Bankern zufolge ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich Amazon zunächst mit einem Partner zusammentut, um überhaupt erst einmal ins Geschäft zu kommen und das neue Geschäftsfeld kennenzulernen. Diese Strategie sei bereits erprobt, im Report wird die Kooperation mit Toys‘R‘Us aus dem Jahr 2000 genannt. Amazon könne so rasch an Größe gewinnen und sich bei den Kunden etablieren, gleichzeitig aber Risiken vermeiden, die der Betrieb einer eigenen Apotheke mit sich bringt. Außerdem bekomme der Konzern so Zugriff auf Patientendaten, die er für Zusatzverkäufe und neue E-Health-Angebote nutzen könne.
Als Partner kommen vor allem Pharmacy Benefit Manager (PBM) infrage, die im Auftrag der Krankenversicherungen die Arzneimittelpreise mit Herstellern und Apotheken aushandeln und die Versicherten an die Partner verweisen. Das Problem: Bei den Top 5, die 90 Prozent des Marktes abdecken, dürfte das Interesse an einer Zusammenarbeit mit Amazon gering sein. Denn Express Scripts, Caremark, OptumRx, Humana und Prime betreiben eigene Versandapotheken, über die sie die Versicherten am liebsten selbst versorgen, weil sie weitaus mehr Ertrag abliefern als das reine Vermittlungsgeschäft. Einem künftigen Konkurrenten die Tür zum Markt zu öffnen, dürfte keine Option sein. Abgesehen davon, dass zahlreiche Abgrenzungsfragen etwa bei der Ansprache der Kunden geklärt werden müssten.
Variante 2: Amazon wird selbst als Versandapotheke aktiv. Hier sehen die Analysten ebenfalls wenig Anreiz seitens der PBM, den Konkurrenten in ihr Netzwerk mit aufzunehmen – es sei denn, die Versicherten drängten darauf. Ohne eine größere Anzahl an Kunden ließen sich aber nur schwer Rabatte bei den Generikaherstellern aushandeln – und diese sind laut Studie entscheidend. Schon heute bündeln Pharmahändler wie Walgreens und McKesson ihren Einkauf weltweit, um ihre Margen zu optimieren.
Dazu kommt laut Goldman Sachs das Problem, dass bei Rezepten nicht selten Genehmigungsverfahren notwendig sind oder Rückfragen beim Arzt erforderlich werden. Das könne zu Verzögerungen von bis zu vier Tagen führen – der Vorteil von Amazon, die Belieferung auf ein Zeitfenster von ein bis zwei Stunden verkürzen zu können, sei damit futsch. Auch auf die Preise könne der Konzern nur bedingt Einfluss nehmen, da diese vom PBM vorgegeben würden. Allenfalls bei Selbstzahlerprodukten gebe es Spielraum.
Weniger konzentriert sei die Situation im Einzelhandel vor Ort – Variante 3 könnte laut Goldman Sachs daher eine Omnichannel-Strategie mit Versandhandel und Filialen sein. Klingt unrealistisch? Keineswegs. Erst vor Kurzem hat Amazon die Bio-Supermarktkette Whole Foods Market gekauft. Allerdings stehen die knapp 500 Filialen in keinem Verhältnis zu Playern wie Walgreens oder CVS mit jeweils knapp 10.000 Filialen, die rund 41 Prozent des Marktes auf sich vereinen.
Abermals stelle sich daher die Frage, ob die PBM bereit wären, Amazon als vergleichsweise kleinen, aber umso gefährlicheren Partner zu akzeptieren. Um aus dem Stand eine größere Abdeckung zu erzielen, müsste der Konzern Geld in die Hand nehmen – was er in der Vergangenheit kaum getan hat und wofür kaum noch Übernahmekandidaten infrage kommen. Vorteile einer solchen Strategie sei, dass Amazon die Filialen als Vertriebszentren nutzen und damit auch Akutmedikation im Wege des Versandhandels liefern könnte. Bislang bietet nur Caremark den Versicherten einen Vor-Ort-Service in den Filialen seiner Apothekenkette CVS an.
Wenn also die PBM den Markt abschotten, könnte Amazon selbst zum Rezeptmakler mit angebundener Versandapotheke werden. Doch gegen Variante 4 sprechen ebenfalls die hohen Investitionskosten und die fehlenden Übernahmeziele. Außerdem fehle die komplette Erfahrung in diesem Geschäftsfeld und damit auch die notwendige Differenzierung.
Zwar könnte Amazon – wie in der Vergangenheit bereits mehrfach kolportiert – zunächst als PBM für die eigenen Mitarbeiter oder die eines Kooperationspartners tätig werden. Ohne einen ausreichend großen Versichertenstamm fehle es aber an Verhandlungsmasse gegenüber der Industrie und damit an Einsparungen, die weitergegeben werden können. Zum Vergleich: Die führenden PBM wickeln die Rezepttarife für jeweils 20 Prozent der US-Bürger ab.
Szenario 5: Amazon wird zum Lieferanten für die Apotheken. Sicher, der Konzern hat zuletzt den Bereich der B2B-Distribution für sich entdeckt. Dass der Konzern aber zum Pharmagroßhändler werden kann, halten die Experten von Goldman Sachs trotz der bestehenden Logistikinfrastruktur für eher unwahrscheinlich. 90 Prozent des Marktes entfallen auf die Top 3, zum Teil gibt es langjährige Kundenbeziehungen, die über Jahre hinaus vertraglich gesichert sind.
Allenfalls unabhängige Apotheken kämen für Amazon als Kunden in Frage, und auf diese entfielen weniger als 50 Prozent des Marktes. So sei es unwahrscheinlich, dass der Versandhändler dieselben Konditionen bieten könne wie die teils multinational aufgestellten Konzerne.
Alle fünf Varianten basierten auf heutigen Annahmen, räumen die Experten ein. Daher der Konzern aber schon früher seiner Zeit stets voraus war, werfen sie einen Blick in die Glaskugel. Was wenn Amazon der Vielzahl an Widrigkeiten zum Trotz doch der erste komplett integrierte Pharmahandelskonzern werden würde?
Der Einstieg in den Apothekenmarkt könnte laut Goldman Sachs nur der erste Schritt auf dem Weg sein, Amazon als Player im Bereich der digitalen Gesundheit zu etablieren. Stichwort: Internet der Dinge. Schon der Projektname „1492“ zeige, welche Bedeutung dem Thema in Seattle beigemessen wird. Die Experten sehen zwei grundlegende Bereiche: So könnte Amazon als Partner für Ärzte und Kliniken interessant werden, der ihnen ein Rundum-Paket bietet – von digitalen Akten bis hin zur Bestellmöglichkeit für Artikel des Praxisbedarfs. Das System würde sich selbst befeuern: Wenn Ärzte ihre Daten bei Amazon hinterlegten, könne der Konzern sie aggregiert auswerten und wiederum Handlungsempfehlung auf Basis realer klinischer Fakten geben. Und natürlich über diese Beziehung auch die Rezepte abfischen.
Der zweite Bereich richtet sich an den Patienten, von Apps bis hin zur Video-Sprechstunde mit anschließender Buy-now-Option. Auch wenn hier zahlreiche Widerstände überwunden werden müssten – der Nutzen könnte gewaltig sein, wenn es Amazon gelänge, sich als Anbieter für alle Gesundheitsfragen zu etablieren.
Einstweilen könnte der Konzern die niedrig hängenden Früchte ins Visier nehmen, die Lieferung von OTC-Medikamenten etwa via Prime Now innerhalb von zwei Stunden. Schon heute werden frei verkäufliche Arzneimittel laut einer Untersuchung von Goldman Sachs bei Amazon deutlich günstiger angeboten als in den Webshops der Apothekenketten. Selbst im Bereich der Eigenmarken sei der Konzern immer noch auf einer Linie mit der Supermarktkette Walmart, die innerhalb der Branche als Preisbrecher gilt.
Ein weiteres, vergleichsweise einfach zu erschließendes Segment könnten Hilfsmittel im akuten und stationären Bereich sein. In Salt Lake City beliefert der Konzern bereits mehr als 20 Krankenhäuser und 200 Ambulanzen der Klinikkette Intermountain.
Zahnärzte seien eine weitere attraktive und gegenüber dem Versandhandel aufgeschlossene Zielgruppe: Einer Umfrage von Goldman Sachs zufolge wären 53 Prozent bereit, Dentalprodukte online zu beziehen.
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