Versandapotheken gegen Versorgungslücken Patrick Hollstein, 29.10.2012 13:00 Uhr
Versandapotheke – das waren lange Jahre DocMorris und Ralf Däinghaus. Doch mindestens genauso großen Anteil an der Einführung des neuen Vertriebszweigs hatte Dr. Thomas Kerckhoff. Für die schweizerische Versandapotheke Mediservice sammelte der approbierte Mediziner vor zehn Jahren rund 80 Kassen ein, die die Initiative ProDSA (Direkt-Service-Apotheke) unterstützten. Nach seiner Zeit bei Avie machte sich Kerckhoff als Unternehmensberater mit KC Development selbsständig und betreute mehrere Versandapotheken, unter anderem für seinen Bruder Markus, der es mit seinem Impfstoffversand bereits bis vor das Bundesverfassungsgericht geschafft hatte. Mit APOTHEKE ADHOC sprach Kerckhoff über die Stärken und Schwächen des Versandhandels und über die Zukunft der Apotheke.
ADHOC: Die großen Holland-Versender stehen zum Verkauf. Ist das Konzept Versandapotheke gescheitert?
KERCKHOFF: Die Goldgräberstimmung ist definitiv vorbei. Die Versandapotheke ist heute Teil der Versorgungsstruktur. Der Verbraucher erwartet einfach, dass er Medikamente im Versandhandel bestellen kann. Die Frage ist, welchen Mehrwert er dabei bekommt. Ein großer Irrtum der ersten Stunde war sicherlich die Annahme, Kunden würden automatisch online bestellen, nur weil Produkte online angeboten werden.
ADHOC: Und weil sie billiger sind.
KERCKHOFF: Das war der nächste Fehler. Sparen ist eine deutsche Primärtugend. Jeder zweite Apotheker ist der Überzeugung, dass die OTC Preise in den Keller gehören. Bei Produkten mit langem Lebenszyklus ist das tödlich. Ein neuer Joghurt kann in vier Wochen auf den Markt gebracht werden. Aspirin wird eben nur alle 100 Jahre erfunden. Die Marge kann nur einmal gesenkt werden. Bei hohen Investitions- und Betriebskosten wird die Luft dünn. Geld verdient dann niemand mehr.
ADHOC: Was ist mit Rezepten?
KERCKHOFF: Mit 8,10 Euro kann man sicherlich etwas anfangen. Die Frage ist, wie ich den Verbraucher motiviere. So herausragend die gesundheitspolitische Bedeutung des Versandhandels bei seiner Einführung war – ist sie heute eher gering. Die Kassen sparen ihr Geld über Rabattverträge. Die Pharmaindustrie blutet. Die Kosten der Arzneimitteldistribution und -beratung sind im Gesamtkontext marginal. Zurzeit wird kein Politiker wird sich deswegen viel Arbeit machen.
ADHOC: Das war vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders.
KERCKHOFF: Das hatte vor allem gesundheitspolitische Hintergründe. Als die Gmünder Ersatzkasse anfing, Versandapotheken wie DocMorris salonfähig zu machen, waren schnell alle anderen Kassen dabei. Für sie war der Versandhandel ein lang ersehntes Instrument, um das Abgabe- und Vertragsmonopol der verfassten Apothekerschaft zu brechen. Insofern hat der Versandhandel seine Schuldigkeit getan. Wie gesagt, der Versandhandel hat seinen Platz in der Versorgungslandschaft gefunden. Der Geburtsfehler bei der Zulassung des Versandhandels war, anders als ursprünglich geplant, die Rx-Preise nicht in Höchstpreise zu wandeln. Damals hatte sich die Politik den Interessen der Standesvertretung gebeugt und sich selbst eines wirksamen Steuerungsinstruments beraubt.
ADHOC: Nur Geld verdienen lässt sich eben nicht.
KERCKHOFF: Das ist eine Annahme, die so nicht für jeden Anbieter zutrifft. Man kann durchaus seriös Geld verdienen, denn die Voraussetzungen sind prinzipiell gut: Die Deutschen sind historisch sehr versandhandelsaffin. Die Frage ist, wer das richtige Konzept entwickelt. Quelle und Neckermann sind Geschichte. Amazon, zooplus und Zalando lehren den stationären Handel das Fürchten. Wenn der Versandhandel 1.0 die Rabattschlacht war, muss der Versandhandel 2.0 die Serviceoffensive sein. Es gibt genügend Versorgungslücken, die überbrückt werden müssen.
ADHOC: Zum Beispiel?
KERCKHOFF: Versandapotheken können von ihrer Organisationsform her wesentlich mehr zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung beitragen als sie es heute tun – und als eine Vor-Ort-Apotheke je leisten könnte. Nehmen sie den Bereich „Specialty Pharmacy“. Viele teure und erklärungsbedürftige Spezialmedikamente kommen heute nur mit viel Aufwand und Verspätung zum Patienten. Welcher Großhändler und welcher Apotheker legt sich - in AMNOG Zeiten - noch Produkte im Wert von einigen Tausend Euro ins Lager? Der Leidtragende einer solchen Entwicklung ist der Patient, der dann auch noch oft alleine gelassen wird. Versandapotheken haben ganz andere Möglichkeiten, Produkte in den Markt zu bringen, die es sonst schwer hätten.
ADHOC: Wer soll das bezahlen?
KERKCHOFF: Hier sind es die Hersteller, die Interesse an der schnellen und qualitativ hochwertigen Verfügbarkeit ihrer Arzneimittel haben. Solche Systeme sind im Ausland längst etabliert. In den USA etwa gibt es ganze Fachgesellschaften, die sich mit diesen Themen aus qualitativer Sicht beschäftigen. Und es ist natürlich auch eine Frage des Preises: ein Diabetiker lässt sich mittels einer Kopfprämie nun einmal preiswerter mit Insulin und Teststreifen versorgen. Am Ende setzt sich durch, was rational ist. Das können auch Versicherungstarife mit Bindung an eine Versandapotheke sein.
ADHOC: Warum hat sich Medco dann aus Europa zurückgezogen?
KERCKHOFF: Die Konzepte der Amerikaner stimmen, aber das Verständnis für den Markt fehlt. Wer macht denn ernsthaft sein Europabüro in Amsterdam auf? Das System ist sehr komplex, und man braucht Ansprechpartner und profunde Kenner des Marktes vor Ort. Kapital alleine reicht nicht.
ADHOC: Auch die Kassen scheinen noch nicht so überzeugt. Ab kommenden Jahr liefern in Sachsen-Anhalt wieder Apotheken vor Ort die Grippeimpfstoffe an die Arztpraxen.
KERCKHOFF: Qualitativ gesehen ist das ein riesiger Rückschritt. Denn wir konnten erstmals eine komplette Chargen- und Kühlkettendokumentation für ein gesamtes Bundesland liefern. Das gab es vorher nicht. Aber natürlich sind wir immer abhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Und das Risiko ist umso größer, je mehr investiert wurde.
ADHOC: Ist denn die Branche schon so weit, diese Entwicklung gehen zu können?
KERCKHOFF: Es gibt die Erkenntnis und die Bereitschaft in mehr oder weniger ausgeprägtem Maß bei allen Anbietern. Ich gehe davon aus, dass von den bestehenden Versandapotheken 20 bis 30 den Wandel mitgestalten können. Aber es gibt eben auch große Hürden.
ADHOC: Welche sind das?
KERCKHOFF: Sie müssen alles komplett aus ihrer Marge finanzieren. Das Fremdbesitzverbot verhindert den Zugang zu Kapital und Know-how. Auch Apotheker sind nun einmal nicht omnipotent. Trotzdem ist in Deutschland alles auf die Person des Apothekers ausgerichtet. Kein „harter Versender“ wird sich auf Handschlaggeschäfte mit einem Apotheker einlassen.
ADHOC: Das betrifft ja nicht alleine den Versandhandel.
KERCKHOFF: Nein, das betrifft den gesamten Apothekenmarkt. Apotheken sind ja keine Herstellungsbetriebe mehr. Im Kern hat man sich auf die reine Abgabe von Fertigarzneimitteln reduziert. Der Rabattvertrag ist ein frontaler Angriff auf den pharmazeutischen Markenkern. Der Apotheker wird auf einen Erfüllungsgehilfen ökonomischer Interessen Dritter reduziert und seinen Kompetenzen beraubt. Die Gesellschaft sollte mehr erwarten können. Der Standesvertretung fehlt es an Gestaltungswille und Gestaltungskompetenz. Überall nur Resignation und Selbstmitleid. Das ersetzt keine zukunftsweisenden Konzepte.
ADHOC: Der Versandhandel, den sie skizzieren, tut ja alles dafür, die Apotheken abzukoppeln.
KERCKHOFF: Die Apotheke vor Ort wird immer ihre Berechtigung haben. Aber natürlich muss sie aufpassen, dass sie nicht noch mehr Segmente und Kompetenzen verliert. Sehen sie sich den Hilfsmittelbereich an oder den Bereich der individuellen Ernährungslösungen. Diese Segmente sind der Apotheke längst verloren gegangen. Aber wenn solche Segmente schon nicht mehr zur Apotheke gehören, was dann? Diese Entwicklung mag bedauerlich sein, lässt sich aber nicht leugnen. Das Leben geht weiter. Die Apotheke hat Zukunft. Über die Rahmenbedingungen muss man sich dringend unterhalten.