Valsartan: 1A, Hexal und Mylan vor Gericht APOTHEKE ADHOC, 08.09.2020 10:09 Uhr
Der Skandal um verunreinigtes Valsartan geht in die juristische Aufarbeitung. Am 30. September findet am Landgericht Konstanz ein erstes Musterverfahren statt. Die Anwälte einer zwischenzeitlich verstorbenen Patientin haben Klage gegen 1A, Hexal und Mylan eingereicht.
Der Freiburger Medizinrechtler Heiko Melcher vertritt mehrere Patienten, die im Zusammenhang mit verunreinigtem Valsartan Schadenersatz fordern. Im Musterverfahren geht es eine 80-jährige Frau, die 2018 an Nierenkrebs erkrankt war und mittlerweile verstorben ist. Laut Melcher sollen die Hersteller 1A, Hexal und Mylan in Anspruch genommen werden, da die Patientin Präparate aller drei Unternehmen eingenommen hatte. Von August 2013 bis Juli 2018 hatte sie die Höchstdosis von 320 mg am Tag erhalten.
Melcher gibt den drei Generikaherstellern eine maßgebliche Schuld an der Erkrankung und machen deshalb Auskunfts-, Schmerzensgeld- und Feststellungsansprüche geltend. Melcher argumentiert, dass sowohl die Gefährdungshaftung aus § 84 Arzneimittelgesetz (AMG) als auch das Unterlassen notwendiger Kontrollen im Herstellungsland die Ansprüche begründen.
§ 84 AMG regelt den Schadensersatz für Patienten, die durch ein Arzneimittel geschädigt wurden. „Der Paragraph stärkt die Patientenrechte, indem er in solchen Fällen gewissermaßen eine Umkehr der Beweislast festschreibt“, erklärt Melcher. „Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist“, heißt es in § 84 Abs. 2 AMG. Diese Eignung wird im Einzelfall nach mehreren Faktoren beurteilt: der Zusammensetzung und der Dosierung des Arzneimittels, Art und Dauer der Anwendung, zeitlicher Zusammenhang mit dem Schadenseintritt, Schadensbild und gesundheitlicher Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung „sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen“, so der Gesetzestext.
Melcher hatte sich bereits bei Einreichung der Klage im Frühjahr 2019 auf ein langwieriges Verfahren eingestellt: „Es wird mindestens zwei Jahre dauern, bis das entschieden ist. Aber ich sehe die Chancen als günstig an, dass wir das Verfahren gewinnen.“ Hinzu komme die Veröffentlichung des eines Gutachtens über die Gesundheitsgefahren der Arzneimittelverunreinigungen in dem von der EU-Kommission eingeleiteten Risikobewertungsverfahren.
Damit meint Melcher das Gutachten des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), das im Februar 2019 veröffentlicht wurde. Demnach könnte die Verunreinigung des betroffenen Valsartans mit dem Nitrosamin N-Nitrosodimethylamin (NDMA) unter 100.000 Patienten, die über einen Zeitraum von sechs Jahren täglich die Höchstdosis von 320 mg eingenommen haben, über deren Lebenszeit zu 22 zusätzlichen Krebsfällen führen.
Die Verunreinigungen mit dem Nitrosamin N-Nitrosodiethylamin (NDEA) wiederum könne zu acht zusätzlichen Krebsfällen bei 100.000 Patienten führen, wenn sie das Medikament mit der höchsten täglichen Dosis über vier Jahre eingenommen hätten. „Das sieht erst einmal nach wenigen Prozent aus“, interpretiert Melcher die Ergebnisse. „Aber wenn man sich das von der Seite der Patienten anschaut, ist das ein nicht unerhebliches Risiko.“
An anderer Stelle war der Versuch einer juristischen Aufarbeitung des Valsartan-Skandals bereits gescheitert. Im Februar 2019 wies die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Anzeige einer Patientin gegen Mylan und 1A ab. Eine Frau aus Nürnberg hatte die beiden Unternehmen wegen Körperverletzung angezeigt, „da sie ein Blutdruckmittel vertrieben haben sollen, welches mit potenziell krebserregenden Substanzen verunreinigt gewesen sein soll“, drückt es die Staatsanwaltschaft aus.
Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahren wegen verfolgbarer Straftaten werde jedoch abgesehen. Dieses sei nämlich laut Strafprozessordnung nur dann einzuleiten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die es „nach den kriminalistischen Erfahrungen als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgte Straftat vorliegt“. Das sei nicht der Fall. Denn durch eine „bloße Rückrufaktion“ könne weder auf eine vorsätzliche, noch auf eine fahrlässige Körperverletzung durch den Vertrieb des Medikaments geschlossen werden. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die beiden Unternehmen Kenntnis von den Verunreinigungen gehabt haben oder hätten haben müssen. Etwaige zivilrechtliche Ansprüche – wie sie die Patientin aus Baden-Württemberg nun erhebt – werden durch die Entscheidung nicht berührt.