Teleclinic rechnet mit dem Durchbruch Tobias Lau, 19.05.2020 14:02 Uhr
Teleclinic hat einen der wichtigsten Meilensteine seiner Unternehmensgeschichte erreicht: Die Online-Sprechstunden des Telemedizin-Anbieters sind ab Ende Mai in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) voll erstattungsfähig. „Darauf haben wir fünfeinhalb Jahre hingearbeitet“, sagt Geschäftsführerin Katharina Jünger. Jetzt fehle nur noch ein Baustein, um der Telemedizin endgültig zum Durchbruch zu verhelfen: das E-Rezept. Jünger rechnet deshalb mit einem großen Schub ab Ende des Jahres.
Zuletzt hatten die Zahlen zur Telemedizin viele Beobachter enttäuscht: Zwar war das Wachstum angesichts der Coronakrise stattlich – aber nur von einem sehr geringen Niveau ausgehend. Lediglich 2 Prozent der Befragten hatten im jüngsten EPatient Survey angegeben, dass sie sich schon einmal telemedizinisch behandelt wurden. Jünger ist davon wenig überrascht. Die Voraussetzungen für eine massive Verbreitung seien nämlich schlicht noch nicht gegeben. „Eine Plattform muss drei zentrale Aspekte vereinen: Die Erstattung muss genauso funktionieren wie vor Ort, sie muss für die Patienten einfach bedienbar sein – was sehr anspruchsvoll ist – und sie muss an die Infrastruktur für das E-Rezept angeschlossen sein“, sagt Jünger.
Hinter zwei der drei Punkte kann Teleclinic bereits einen Haken setzen. Ab dem 28. Mai sind die Online-Sprechstunden nämlich genauso abrechnungsfähig wie eine Präsenzbehandlung. Auch hier galt wieder: Die Convenience ist entscheidend, diesmal allerdings aufseiten der Ärzte. Denn drei Punkte seien für die Erstattungsfähigkeit zentral gewesen: die KBV-Zertifizierung, die Patientenaufnahme und die Abrechnung. Während die KBV vor allem auf sicherheitsrelevante Aspekte geschaut hat, stellten sich bei der Patientenaufnahme ganz praktische Fragen: Niemand hat einen Kartenleser zu Hause – wie kommt die Versichertenkarte also zum Arzt? Physisch muss sie das aber gar nicht, deshalb können Patienten ihre Versichertendaten künftig in eine Maske eingeben und dem Arzt dann durch kurzes Vorzeigen nochmal einen Abgleich mit dem Lichtbild ermöglichen.
Am anspruchsvollsten sei allerdings der dritte Punkt gewesen: ein möglichst einfaches Abrechnungsmodell für die Ärzte. „Das Thema Online-Sprechstunden ist nur dann für Patienten und Ärzte interessant, wenn es in die Standardprozesse eingefügt werden kann. Es muss so einfach in den Alltag hereinpassen, dass es keinen weiteren Aufwand bedeutet“, sagt Jünger. Deshalb habe Teleclinic die gesamte Dokumentation und Abrechnung in seine Plattform integriert. Bisher mussten Ärzte die Behandlungen in einem eigenen Onlinesystem dokumentieren, das unabhängig von ihrer Praxisverwaltung ist, und die abrechnungsrelevanten Daten dann manuell übertragen. Das falle nun weg.
Ärzte können die Online-Sprechstunden und deren Abrechnung also nun problemlos in ihre Alltagsabläufe integrieren, sagt Jünger. Doch nicht nur deshalb seien die Ärzte nun nach langer Abwehrhaltung zunehmend aufgeschlossen gegenüber der Telemedizin. „Die Widerstände in der Ärzteschaft sind durch die Coronakrise gesunken“, sagt Jünger. „Bei uns haben sich unglaublich viele Ärzte gemeldet, die gemerkt haben, dass sie durch die leeren Praxen kein Geld mehr verdienen.“ Online-Sprechstunden hätten damit für viele die Möglichkeit geboten, trotz leerer Flure zu behandeln. Schon beim Fall des Fernbehandlungsverbots sei die Geldfrage entscheidend gewesen: Die Ärzteschaft habe gesehen, dass DrEd Umsatz ins Ausland verlagert, und dem gegensteuern wollen. „Am Ende gehen solche Veränderungsprozesse dann besonders schnell, wenn es ums Geld geht“, sagt Jünger.
Der wichtigste Baustein fehle allerdings noch, damit Teleclinic und seine Mitbewerber auch in der Breite durchstarten können: das E-Rezept für alle GKV-Versicherten. Auch hier sieht sich Jünger bereits sehr gut aufgestellt. „Wir bieten gemeinsam mit Apotheken.de bereits Privatrezepte an und haben bei Gerda bereits ein E-Rezept gebaut, das alle gesetzlichen Versicherer erstatten könnten. Wir müssen es nur für das ganze Land freischalten“, sagt sie. Dazu muss Teleclinic allerdings, wie alle anderen auch, auf die Veröffentlichung der finalen Spezifikationen durch die Gematik warten, die für den 30. Juni angekündigt ist.
Dann stehe einer endgültigen Etablierung nicht mehr viel im Weg. „Ich gehe davon aus, dass Ende des Jahres der Durchbruch kommt“, sagt Jünger. „Unser Ziel ist, dass jeder deutsche Patient genauso online zum Arzt gehen kann wie in die Praxis.“ Wenn es so weit ist, werde die Verbreitung der Telemedizin aber nicht „mit einem Fingerschnipsen passieren“, wie sie es ausdrückt. Vielmehr werde noch viel in Aufklärung investiert werden müssen, denn den Patienten werde eine grundlegende Verhaltensänderung abverlangt. „Das ist ein emotionales Thema, es ist schließlich nicht so, als ob man online Schuhe kauft.“
Für Teleclinic dürfte der wichtigste Kampf dann erst beginnen: Das Unternehmen wird versuchen müssen, seine Marktanteile zu halten und auszubauen. Strategie sei, das bisherige Wachstum von monatlich rund 20 Prozent so weit wie möglich zu halten und die Attraktivität des Angebots für die Patienten parallel weiter zu steigern. „Der März war wirklich Corona-Wahnsinn. Ab da sind wir fünf Wochen hintereinander wöchentlich um 50 Prozent gewachsen. Das hat auch unser Team an seine Grenzen gebracht“, sagt Jünger. Bereits während der Krise hatte Teleclinic, wie andere Anbieter auch, sein Angebot angepasst: Nicht nur werden Patienten mit Covid-19-Symptomen kostenlos behandelt, in Zusammenarbeit mit einem Labor bietet Teleclinic auch Sars-CoV-2-Testkits an. Die werden vom Labor geschickt, der Patient testet sich allein zu Hause und schickt das Kit dann zurück.
Doch die Konkurrenz steht ebenfalls in den Startlöchern. Plattformen wie Jameda oder Doctolib haben während der Coronakrise ihre Sprechstundentools für praktizierende Ärzte geöffnet. Gut möglich, dass sich der Telemedizinmarkt dahingehend verlagert, dass die Niedergelassenen Zusatzangebote über die Plattformen buchen, in denen sie ohnehin vertreten sind. Und dann sind da noch die Versandapotheken, die ebenfalls auf ihrer Plattform Online-Sprechstunden anbieten wollen.
Jünger sieht dennoch ihr eigenes Geschäftsmodell als Trumpf. „Wir sind die einzige On-Demand-Plattform“, sagt sie. Anbieter wie Jameda oder Doctolib würden nur die technische Infrastruktur zur Verfügung stellen, könnten aber nicht garantieren, dass ein Patient schnell einen Termin bekommt – der Arzt vergibt schließlich nur einen normalen Termin, der vor allem für GKV-Patienten durchaus weit in der Zukunft liegen kann. „Es gibt aber Fälle, in denen Patienten einfach schnell einen Arzt sprechen wollen. Bei uns kann man das innerhalb von 30 Minuten“, so Jünger. „Ich würde daher nicht hysterisch sagen ‚Die oder wir!‘. Der Markt ist groß genug und es gibt Platz für beide Angebote.“