Spermidin: Apotheken drohen Abmahnungen Patrick Hollstein, 14.07.2023 09:49 Uhr
Als Jungbrunnen für Körper und Geist hat Spermidin in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Erfolg hingelegt. Doch jetzt droht eine riesige Abmahnwelle. Ein Teil der Produkte wird nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in einem neuartigen Verfahren hergestellt, sodass es einer Zulassung bedarf. Im Auftrag eines österreichischen Herstellers fordert eine Kanzlei aus Hamburg die Apotheken jetzt auf, ihre Angebote zu prüfen. Ab Herbst droht sonst juristischer Ärger.
Spermidin ist ein Polyamin, das einen zellulären Reinigungsprozess in Gang setzt, der als Autophagie bezeichnet wird. Wissenschaftler der Uni Graz hatten bereits 2009 das Potenzial von Spermidin entdeckt, seitdem werden verschiedene neuro- aber auch allgemein zellprotektive Wirkungen erforscht.
Mittlerweile haben verschiedene Unternehmen entsprechende Nahrungsergänzungsmittel im Sortiment, doch vor allem bei hochdosierten Varianten sollten Apotheken jetzt genau hinschauen.
Denn es gibt zwei unterschiedliche Herstellungsverfahren. Traditionell wird die Substanz aus ungekeimtem Weizenkeim extrahiert. Um einen höheren Gehalt zu erreichen, wird bei einer anderen Methode Buchweizensaat in einer Lösung zu Sprossen gekeimt, die synthetisches Spermidin enthält. Nach der Ernte werden die Keimlinge mit Wasser gewaschen, getrocknet und zu Mehl gemahlen.
Nach Ansicht des österreichischen Herstellers The Longevity Labs (TLL) sind die angereicherten Produkte als neuartige Lebensmittel einzustufen und damit ohne Zulassung nicht verkehrsfähig. TLL arbeitet mit der ursprünglichen Methode und vertreibt seine Produkte unter der Marke SpermidineLife auch in Deutschland. In den Apotheken hat Infectopharm die Marke im Sortiment.
TLL hatte den Konkurrenten Optimize Health Solutions vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen in Graz verklagt. Und anders als das Oberlandesgericht Wien, das in einem vergleichbaren Fall zu dem Ergebnis gekommen war, dass es sich nicht um ein neuartiges Lebensmittel handele, legten die Richter in Graz den Fall beim EuGH vor.
Neues Verfahren, neuartiges Lebensmittel
Die Richter kamen zu dem Schluss, dass das Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt als „neuartiges Lebensmittel“ einzustufen ist. Einerseits sei es in der EU vor dem 15. Mai 1997 als Stichtag nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet worden, andererseits sei die Sicherheit nicht „durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt“. Und schließlich werde es, wie in der Richtlinie bestimmt, nicht mit Hilfe eines üblichen Vermehrungsverfahrens aus Pflanzen gewonnen.
Laut TLL ist die Rechtslage damit „vollkommen klar und unzweifelhaft“: Das Inverkehrbringen eines neuartigen Lebensmittels ohne Zulassung könne nicht nur abgemahnt werden, sondern auch von den Behörden beanstandet und sogar als Straftat geahndet werden.
„Sämtliche Apotheken, die derartige Produkte entweder als Eigenmarken verkaufen oder von Inverkehrbringern weiterverkaufen, machen sich daher strafbar“, so die beiden Geschäftsführer Herbert Pock und Petra Pongratz. Denn vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils könnten sie sich nicht mehr auf eine vertretbare Rechtsauffassung stützen.
Bevor man rechtlich gegen Wettbewerber oder auch Händler vorgehe, wolle man über das Urteil informieren und auf die Problematik der strafrechtlichen, verwaltungsrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen Verfolgung hinweisen. Spätestens ab Herbst müssten aber auch Apotheken mit Konsequenzen rechnen. Bei Orthomol Cellprotect sind keine Abmahnungen zu befürchten, da das enthaltene Spermidin aus Weizenkeimextrakt mit Novel Food Zulassung stammt.
Spermidin wird zum einen von Zellen des Körpers synthetisiert, aber auch in größeren Mengen über die Nahrung aufgenommen und von Darmbakterien produziert. Im Alter sinkt die Spermidin-Konzentration im Blut und einigen Körpergeweben jedoch – vermutlich aufgrund einer abnehmenden Spermidinsynthese. Eine vermehrte Zufuhr des Polyamins könnte diesen Verlust wieder ausgleichen.