Versandapotheken

Sanicare: Zwei Gutachten, zwei Meinungen

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Berlin -

Seit zwei Jahren wird erbittert über die Besitzverhältnisse bei der Versandapotheke Sanicare gestritten. Länger war es ruhig, doch in den kommenden Wochen gehen die gerichtlichen Auseinandersetzungen in die heiße Phase. Im Kern geht es um die Frage, ob der im Juli 2016 verstorbene Inhaber Dr. Volkmar Schein überhaupt geschäftsfähig war oder nicht. Jetzt liegen zwei Gutachten vor, die zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen.

Schein hatte Sanicare – nach viermonatiger Planung mit drei Freunden und Geschäftspartnern – im Frühjahr 2013 aus dem Nachlassinsolvenzverfahren des verstorbenen Firmengründer Johannes Mönter zu einem Preis von 5,1 Millionen Euro erworben. Doch schon ein Jahr später wurde der Betrieb in eine offene Handelsgesellschaft (OHG) umgewandelt und 50 Prozent der Anteile an Christoph Bertram übertragen – ohne Gegenleistung. Am 4. November 2015 wechselten weitere 45 Prozent den Besitzer, wiederum unentgeltlich. Kurz darauf war Schein in stationärer psychiatrischer Behandlung. Wenige Tage nach einem weiteren Klinikaufenthalt verstarb er im Juli 2016 durch Suizid.

Seine Witwe Ingrid Schein will die Übertragungen der Gesellschaftsanteile für ungültig erklären lassen. Ihrer Meinung nach hätte ihr Mann nicht alleine über das gemeinsame Vermögen verfügen dürfen – zumal er obendrein aufgrund seiner psychischen Verfassung dazu nicht in der Lage gewesen sei. Sie will im Streit nachweisen, dass ihr Mann bereits zu diesen Zeitpunkten geschäftsunfähig war und die Übertragung damit nichtig ist. Aus diesem Grund beschäftigen sich die Gerichte ausführlich mit dem medizinischen Zustand des verstorbenen Apothekers.

Professor Dr. Heinrich Schulze Mönking, Ärztlicher Direktor des St. Rochus-Hospitals Telgte in Münster, hat ein Gutachten für das Landgericht Osnabrück erstellt. Hier hatten Bertram sowie Chefapotheker Heinrich Meyer – der als neuer Mitinhaber allerdings noch immer nicht eingetragen ist – auf Löschung Scheins als Inhaber der OHG geklagt. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie bezieht sich auf Krankenakten und Arztberichte aus verschiedenen Praxen und Kliniken, in denen Schein in den vergangenen Jahren in Behandlung war. Aus seiner Sicht zeigt sich zwar seit 2010 eine Symptomatik, bei der psychische Faktoren eine Rolle spielen. Die Diagnose „schwere depressive Episode“ sei jedoch erstmals im Dezember 2015 gestellt worden.

Laut Schulze Mönking hat die Symptomatik spätestens im Sommer 2015 begonnen, ab September wies sie ein schweres Ausmaß auf. In den folgenden Wochen habe sich die Situation verschärft, eine zwischenzeitliche Besserung habe es nicht gegeben. Für den Experten steht damit fest, dass wahrscheinlich ab Mitte September, spätestens ab Oktober 2015 Scheins Kritik- und Urteilsfähigkeit kontinuierlich „erheblich beeinträchtigt“ war. „Der Zustand hatte ein solches Ausmaß, dass Schein nicht zu einer freien Willensbestimmung in der Lage war.“

Ob die tiefe Verzweiflung mit Blick auf die eigene finanzielle Situation – Schein fürchtete die Insolvenz und fühlte sich von seinen Partnern offenbar massiv unter Druck gesetzt – berechtigt war, ist dem Experten zufolge unerheblich: „Vielmehr kommt es darauf an, dass er wegen seiner Erkrankung nicht in der Lage war, seine tatsächliche Situation richtig einzuschätzen.“ Im juristischen Sinne bestand laut Schulze Mönking eine „krankhafte Störung der Geistestätigkeit infolge einer schweren Depression mit teils psychotischem Ausmaß“.

Schein sei nicht in der Lage gewesen, die Situation seiner Firma und die Entscheidung zur Unterzeichnung des Vertrags vom 4. November 2015 „von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen“, weil er „unkorrigierbar davon ausging, dass alles unrettbar für ihn verloren sei, dass er im Elend landen würde usw.“ Schulze Mönking kommt daher zu dem Fazit, dass er zu jenem Zeitpunkt nicht geschäftsfähig war: „Eine kritische Abwägung positiver und negativer Aspekte geschäftlicher Situationen war ihm nicht möglich. Jedwedes Urteil musste für ihn negativ ausgehen.“

Was die erste Übertragung angeht, ist der Experte zurückhaltender. Zwar gebe es bereits im Juni 2014 einige Hinweise auf eine beginnende Stresssymptomatik, jedoch keine Hinweise auf eine schwerwiegende seelische Störung. „Insofern gibt es für diesen Zeitpunkt keine Belege für eine Geschäftsunfähigkeit.“

Dr. Claudia Birkenheier, Chefärztin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der SHG-Kliniken Völklingen, kommt in ihrem Gutachten für das Familiengericht Neunkirchen zu einem ganz anderen Ergebnis. Zwar zweifelt sie nicht an, dass Schein unter einer schweren Depression litt. Dies begründe aber noch keine Geschäftsunfähigkeit.

Anders als ihr Kollege geht Birkenheier nicht näher auf die Befunde ein. Sie weist darauf hin, dass in keiner der Akten das Thema der fehlenden Geschäftsfähigkeit aktiv angesprochen worden sei; vielmehr sei Schein – zumindest zeitweise – als wach, bewusstseinsklar, voll orientiert, konzentriert und aufnahmefähig beschrieben worden.

Vor allem aber habe Schein alle Unterlagen etwa zur Einweisung oder Dokumente für die Krankenversicherung selbst unterschrieben – für die Gutachterin ein eindeutiger Hinweis, dass Klinik beziehungsweise Ärzte selbst von einem „rechtswirksamen Handeln auf der Basis einer autonomen Willensbildung“ und damit einer Geschäftsfähigkeit ausgegangen seien.

Im März 2016 sei Schein zwar eine Arbeits- und Dienstunfähigkeit attestiert worden, zur Geschäftsfähigkeit sei dabei abermals keine Stellung genommen worden. Keiner der behandelnden Psychiater habe wegen Zweifeln an der Geschäftsfähigkeit beispielsweise eine Betreuung beantragt oder auch nur die Ehefrau informiert. Selbst nachdem sich die Situation im Herbst 2015 massiv zugespitzt habe, sei Schein von keiner Seite empfohlen worden, auf weitere private oder geschäftliche Aktivitäten zu verzichten.

Das einzige ärztliche Attest, das eine Geschäftsunfähigkeit bescheinige, sei erst im September 2016 post mortem ausgestellt worden – und widerspricht aus Sicht von Birkenheier den Krankenunterlagen, in denen keine kognitive Störungen festgehalten seien. Auch das Gutachten des Kollegen aus Münster überzeugt Birkenheier nicht; selbst der Suizid spreche, wie sich aus den Akten der Staatsanwaltschaft ergebe, nicht für eine Kurzschlussreaktion, sondern für eine „Planungs- und Bilanzierungsfähigkeit“.

Beide Gutachten sind derzeit in der Nachbearbeitung; am Ende werden sie Eingang in die Verfahren finden. Womöglich werden die Sachverständigen vor Gericht geladen, dann könnten sie von Richtern und Anwälten mündlich befragt werden. Der Ausgang ist nach wie vor ungewiss.

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