Vor acht Jahren versetzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die deutsche Apothekenbranche in Schockstarre. Die Richter in Luxemburg interessierten sich damals nicht für gesundheits-, sozial- oder ordnungspolitische Erwägungen, sondern einzig und alleine für das Wohl und Wehe der Versender. Und auch wenn mit dem aktuellen Urteil noch nicht alle Rx-Boni verboten sind – in kleinen Schritten kehrt die Vernunft zurück. Ein Kommentar von Patrick Hollstein.
Dass die Preisbindung einen Sinn hat und Rabatte auf Rezepte ebenso unsolidarisch wie gesundheitsgefährdend sein können, hätte man eigentlich niemandem erklären müssen. Aber der EuGH sah es 2016 anders und stellte den vermeintlichen Wettbewerbsnachteil der Versender in den Vordergrund: Wer nur mit Verspätung liefern und damit eigentlich nichts zur Versorgung beitragen könne, müsse wenigstens einen Preisvorteil haben, so die verquere Logik der Richter damals.
Es hat mehrere Anläufe und den Umweg über das Heilmittelwerberecht gebraucht, um die Einsicht herbeizuführen, dass Gutscheine für Medikamente eine gefährliche Nebenwirkung haben können. Dass Schnäppchen zu einem unnötigen Konsum und Mehrverbrauch führen können. Und dass sich, den Gedanken konsequent zu Ende gedacht, extreme Schnäppchenjäger sogar dazu verleiten lassen könnten, sich Rezepte überhaupt erst deswegen ausstellen zu lassen.
Das hat der EuGH nun ebenfalls anerkannt, anders als zuvor der Generalanwalt übrigens. Nur ein Schlupfloch haben die Richter den Versendern offen gelassen: Sofortrabatte bergen nach der Logik des EuGH kein Risiko für einen Mehrverbrauch, weil der Arzt das Medikament ja bereits verordnet hat. Nach derselben Logik hatte Shop Apotheke den eigenen Bonus („Jauch-Rabatt“) vor Kurzem umgestellt.
Mit seiner Entscheidung hat der EuGH den Versendern ihres wichtigsten Lockmittels beraubt. Denn gerade Chronikern können sie nun keine Köder mehr hinwerfen, da diese in der Regel ja von der Zuzahlung befreit sind.
Und vor allem: Auch wenn der EuGH die Chance vertan hat, einen Abwasch zu machen – mit der aktuellen Entscheidung wurde die Tür der Logik endlich wieder weit aufgestoßen. Vor acht Jahren ließen sich die Richter nicht von der Notwendigkeit der Preisbindung für die flächendeckende Versorgung überzeugen. Aber der Sinn der Zuzahlung ist viel einfacher zu erklären: Sie soll im Interesse des Solidarsystems die Inanspruchnahme von Leistungen steuern.
Auch wenn sich über die Befreiung von Chronikern wohl wieder Ausnahmen konstruieren ließen: Sollte der EuGH irgendwann auch diese Frage zugunsten von DocMorris & Co. beantworten wollen, müsste er sich weit in die Grundsätze des deutschen Gesundheitswesens hineinlehnen. Zu weit, wie sich vermuten lässt.
Aber bis diese Frage geklärt wird, könnten wieder Jahre vergehen. Schon im Mai hat der Bundesgerichtshof (BGH) aber die Chance, dem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu machen und seine Entscheidung aus dem Jahr 2016 zu korrigieren. Denn der damals gesehene Wettbewerbsnachteil hat sich mittlerweile aufgelöst: Seit Einführung des E-Rezepts haben Versender denselben Zugang zu Verordnungen. Laut ihren eigenen Kampagnen ist der Weg sogar schneller und bequemer als der zur nächsten Apotheke. Vielleicht ließe sich sogar ein Nachteil der Vor-Ort-Apotheken konstruieren, der ausgeglichen werden müsste, wer weiß das schon...
Aber statt weiter in entlegenen juristischen Winkeln nach Argumenten zu kramen, wäre es allerhöchste Zeit, den eigentlichen Zweck, nämlich den Schutz der Patientinnen und Patienten, endlich anzuerkennen. Kranken Menschen soll nicht zugemutet werden, auf der Suche nach dem besten Schnäppchen erst noch die Apotheken im Umkreis abzuklappern. Und Apotheken sollten sich einen Wettbewerb um die beste Qualität liefern – und keine Preisschlachten.