Der Apotheken- und Arzneimittelmarkt ist im Umbruch. Das klingt nach einer Binsenweisheit, in seiner wirklichen Tiefe haben viele das aber immer noch nicht verstanden: Die vielen Plattformen und Kooperationen, die seit einigen Jahren über den Markt spülen, sollen kein Aktionismus sein, sondern einen grundlegenden Wandel abbilden. Das Problem: De facto sind viele von ihnen größtenteils Aktionismus. Nimmt man die unterschiedlichen Modelle unter die Lupe, zeigen sich Unterschiede nicht nur in der Strategie, sondern vor allem in den Erfolgsaussichten, erklärt Plattform-Experte Hamidreza Hosseini.
Plattform hier, Portal da und mittendrin Apotheken, von denen viele noch nicht wissen, wie sie mit den neuen Angeboten umgehen sollen. „Solange man sich da vorbereitet, seine eigenen Hausaufgaben macht, sehe ich da eine gute Möglichkeit“, erklärte Gematik-Chef Dr. Markus Leyck-Dieken erst kürzlich wieder. Aber wie sehen solche guten Vorbereitungen aus?
Auf ein Pferd setzen oder versuchen, möglichst überall dabei zu sein? Oder soll man Plattformen boykottieren, weil Versender wie DocMorris oder Shop-Apotheke dahinterstehen oder mit an Bord sind? „Am besten sollte die Apotheke neben der eigenen Shoplösung auf möglichst vielen Plattformen präsent sein, um eine möglichst hohe komplementär Reichweite zu erzeugen“, sagt Hosseini. „Gleichzeitig sollte man sich eigene Unique Selling Points schaffen: Dazu stellt sich die Frage, ob es in der Nähe tangierende Bereiche zum eigenen Angebot gibt und lokale und regionale Ökosysteme gebaut werden können.“ Denn damit könne man nicht nur Mitnahmeeffekte aus anderen Netzwerken schaffen, sondern vor allem eine eigene Position aufbauen, die nicht so leicht ersetzt werden kann.
„An solchen lokalen Netzwerken werden sich die großen Plattformen die Zähne ausbeißen“, so der Dozent für Plattformökonomie und Digitalisierung an der WHU Otto Beisheim School of Management, der mit seiner Beratungsfirma Ecodynamics Unternehmen zu Plattformstrategien berät, darunter in der Vergangenheit auch die Apobank. „Denn es ist für große Plattformen schwer, da hereinzukommen, wo persönliche Beziehungen und Geflechte eine große Rolle spielen, wo der Händler die Kunden persönlich kennt, sie teilweise länger begleitet, versteht und ihnen ein besonderes Erlebnis bietet. Die lokale Verzahnung ist der große Unique Selling Point der Apotheken.“ Denn auch wenn sich immer mehr ins Internet verlagert und internationale Konzerne vom Arzneimittelversand bis zur E-Rezept-Infrastruktur eine immer größere Rolle im Gesundheitswesen spielen, solle man sich makroökonomisch keinen falschen Vorstellungen hingeben: „Die letzten Jahre haben gezeigt: Es wird nur bedingt eine totale Globalisierung geben, sondern vielmehr eine Mischung aus Globalisierung und Lokalisierung.“
Solche Missverständnisse halten sich aber nicht nur auf der unteren und mittleren Ebene der Plattformmärkte – Hosseini teilt in Produzenten und Provider, Handelsanbieter und schließlich die Plattformen selbst. Auch auf Ebene der Konzernlenker und Plattformbauer lassen sich demnach Konstruktionsmängel ausmachen, die entweder falschem Verständnis der Mechanismen des Marktes geschuldet sind oder aber anderen Zwängen, denen sie unterliegen.
Denn dass an Plattformen kein Weg mehr vorbeiführt, hat sich mittlerweile rumgesprochen. Wie man die richtig baut, hingegen noch nicht ganz. „Da wird versucht, mit einer fast schon nicht ganz ernst genommenen Absicht ins Plattformgeschäft einzusteigen, ohne dessen Mechanismen richtig einzuschätzen. Aber das ist nicht Jugend Forscht und auch kein Kinderkreuzzug, sondern das sind strategische und teilweise investitionsintensive Geschäftsmodelle, die richtig durchdacht sein müssen“, sagt Hosseini. Dazu gehöre auch, realistische Vorstellungen vom Erfolg zu haben: „Statistisch gesehen werden diese Plattformen 3,7 bis 4,7 Jahre bis zum Payback brauchen. Solche B2B-Plattformen performen nie in den ersten zwei bis drei Jahren.“
Was hingegen derzeit im Apothekenmarkt passiert, habe man zuvor auch schon in anderen Branchen beobachten können: „Es wird versucht, mit veraltetem Wissen eine Plattform aufzubauen, was dazu führt, dass man fachlich zurückgeht auf 2013/14. Die Frage ist, wer von diesen großen Playern das nötige und aktuelle Wissen dazu hat, zeitgemäße Plattformmodelle zu entwickeln und richtig zu platzieren“, sagt Hosseini.
Unklar stellt sich dabei der Blick auf die Umtriebe der Partner von Pro AvO dar. „Die haben schon einen guten Ansatz gewählt, müssen allerdings vorsichtig sein, nicht nur darauf zu setzen, die Platzhirsche zu sein. Die versuchen es eher mit Muskelkraft und wollen eine kritische Masse bilden“, sagt er. „Das ist nachvollziehbar und dennoch mit unklarem Ausgang. Die Teilnehmer könnten Gefahr laufen, dass sie selbst über die Größe stolpern, die sie versammelt haben. Die Frage ist außerdem, ob das Vorhaben per Definition eine Plattform ist, wie wir sie kennen.“ Denn über Noventi seien mit den Apotheken als Eigentümer des Unternehmens auch die Handelsanbieter mit an Bord. Gleiches gilt für den Zukunftspakt und Noweda. Dass die mittlere und die obere Ebene sich in der Plattform vereinen, sei dabei schon teil des Problems. „Normalerweise funktioniert eine Plattform moderner Generation, wenn sie liberal ist und den Markt nicht einschränkt. Deshalb muss aber auch die Plattform für so viele Marktteilnehmer wie möglich offen sein.“ Was Hosseini meint: Statt sich auf eine Ebene oder Branche zu kaprizieren, muss eine erfolgreiche Plattform einen Querschnitt des Ökosystems abbilden. Eine Plattform baut man nicht für eine Branche, sondern für die Endverbraucher.
Es sei schon eine Fehlannahme, dass mit mächtigen Allianzen à la Pro AvO und Zukunftspakt auch automatisch viel bewegt werden kann. „Das könnte eher dem Zufallsprinzip folgen“, sagt Hosseini. „Wenn ein Unternehmen bereits ein traditionelles lineares Geschäftsmodell hat und gleichzeitig eine Plattform bauen will, muss dringend darauf geachtet werden, dass das Unternehmen nicht einfach sein lineares Geschäft zu skalieren versucht und bestimmte Muster nur auf einer Plattform abbildet. In dem Fall macht man nichts anderes als ein E-Commerce-Portal. Pro AvO vermittelt von außen eher den Eindruck, die Abbildung einer E-Commerce-Allianz oder ein Aggregator zu sein als eine originäre Plattform.“
Außerdem zeige das Projekt beispielhaft ein grundlegendes Missverständnis, nämlich dass Plattformen die Vermittler von Angebot und Nachfrage seien. „Das stimmt nicht. Plattformen vermitteln gar nichts, sie kuratieren und etablieren nur die Interaktion zwischen Angebot und Nachfrage und sollten neben den klassischen Matching-Mechanismen auf keinen Fall eine aktive Vermittlung forcieren.“ Das Problem in Deutschland sei, dass man sehr oft versucht, die klassischen Marktmechanismen auf Plattformniveau zu heben. Das führe aber nicht weit: Notwendig sei es vielmehr, Makrosysteme abzubilden und dort entsprechende Allianzen zu bilden. Entsprechend müssten auch andere Sektoren im Gesundheitswesen – nicht zuletzt die Telemedizin – stärker eingebunden werden als nur über die Bereitstellung von Schnittstellen, wie es Noventi mit Zava, Kry, Ferndoktor und Go Spring tut. „Das reicht nicht, diese Unternehmen müssen richtig mit ins Boot geholt werden.“
Nämlich so, wie es DocMorris mit Teleclinic getan hat. „Eine entscheidende Frage ist, wie die horizontalen, vertikalen und lateralen Wertschöpfungsketten erweitert und beherrscht werden. Diejenigen, die unterschiedliche Ökosysteme beherrschen, werden auch diejenigen sein, die künftig den Ton angeben.“ Diese Ökosysteme zu managen, dabei die Offenheit zu behalten, neue Elemente einzubauen, das Wertversprechen gegenüber Kunden und Teilnehmern einzuhalten sowie Lock-In-Effekte zu schaffen, sei das Rückgrat einer guten Plattform-Strategie. Und da sei DocMorris mit seiner Strategie bisher am besten aufgestellt. Das zeige auch die bisherige Geschichte, denn der Hollandversender hat sich offenbar viel beim großen Bruder abgeschaut.
„DocMorris war ein klassisches E-Commerce-Modell und versucht nun, den Break-out zur Plattform zu schaffen. Das war bei Amazon ähnlich: Der Konzern hat erst vor ungefähr zwölf Jahren den großen Schwenk zum Plattformbetreiber forciert und die Grundlage von mehr Einnahmen durch Dritthändler etabliert“, erklärt Hosseini. „DocMorris verfolgt eine ähnliche Strategie und wenn sie es schaffen, diesen Trend hinzubekommen, würde ich sie im Moment sehr ernst nehmen. Ich glaube, dass DocMorris gute Chancen hat, künftig richtig Krach zu machen.“ Und Konkurrent Shop-Apotheke? Der fährt ja offensichtlich eine andere Strategie, bei der der Marktplatz nur ein komplementäres Angebot zum Online-Versand sein soll.„Bei Shop-Apotheke ist es schwierig von außen die Strategie nachzuvollziehen. Plattform und E-Commerce komplementär zu betrachten und Kannibalisierungseffekte mit einzuberechnen, ist grundsätzlich eine gute Strategie. Nur die Frage ist, wie das zukünftige Plattformgeschäftsmodell aussehen soll.“
Und was ist mit dem Ideengeber? Das Damoklesschwert Amazon schwebt nach wie vor über den europäischen Gesundheitsmärkten. Ob es sich tatsächlich irgendwann senkt, weiß offiziell noch niemand, da nach wie vor nur wenig über die tatsächlichen Absichten nach außen dringt. Alles, was man bisher weiß, deutet jedoch darauf, dass Amazon auch dort den Ton vorgeben könnte, denn in den USA – wo Amazon am Dienstag erst in den Rx-Versand eingestiegen ist – ist bereits offensichtlich, dass der Konzern an einem gesamten Ökosystem arbeitet, das von der Krankenversicherung über Arzt und Apotheke bis zur Versorgung mit der Chroniker-Medikation alles umfasst. Ob und wie das auch in Europa geplant ist, weiß außerhalb Amazons wohl niemand.
Hosseinis Blick geht aber ohnehin eher in die andere Himmelsrichtung. Denn nach wie vor erfahre die Entwicklung in China zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl auch die dortigen Konzerne schon in den Startlöchern stehen. „Ich habe weniger Sorge vor Amazon als vielmehr vor den Chinesen. Die chinesische Machermentalität, gepaart mit einem Elite-Abschluss, ist eine brisante und ernstzunehmende Mischung“, sagt Hosseini. „Ich befürchte, dass wir schneller etwas von Jianke, Jd.com, Tmall von Alibaba oder Ping An hören werden als von Amazon.“
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