Phytopharmaka

Bionorica gegen die Allmächtige Patrick Hollstein, 28.04.2017 10:10 Uhr aktualisiert am 28.04.2017 12:34 Uhr

Berlin - 

Apotheke oder Drogerie: Wohin gehören pflanzliche Gesundheitsprodukte? Mit dieser Frage muss sich derzeit der Europäische Gerichtshof (EuGH) beschäftigen. Bionorica will erreichen, dass Nahrungsergänzungsmittel nicht länger mit denselben gesundheitsbezogenen Aussagen beworben werden wie OTC-Präparate. Doch es ist ein Kampf gegen die Lebensmittelindustrie – und gegen die übermächtige und selbstgewisse EU-Kommission. Jetzt konnte der bayerische Hersteller in Luxemburg überraschend einen wichtigen Erfolg verbuchen.

Wenn der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zu biblischen Zitaten greift, muss es um etwas Großes gehen. Und tatsächlich: Ein Mittelständler aus dem Fränkischen hatte es gewagt, die übermächtige Brüsseler Behörde wegen Untätigkeit zu verklagen. Das kommt äußert selten vor, laut Generalanwalt Michal Bobek gibt es so gut wie keine Rechtssprechung dazu. Also ging es im Verfahren nicht nur um den Bereich der Phytopharmaka, sondern vielmehr um die Grundsätze des europäischen Verwaltungsrechts.

Im Kern drehte sich der Streit um die sogenannten Health Claims. Seit 2006 gilt für Nahrungsergänzungsmittel die EU-Verordnung, nach der je nach Inhaltsstoff nur bestimmte gesundheitsbezogene Aussagen verwendet werden dürfen. Mehr als 200 Claims wurden von der Lebensmittelbehörde EFSA bereits zugelassen – allerdings noch keine Angaben zu Produkten auf pflanzlicher Basis. Rund 2000 nicht zugelassene Claims werden derzeit von Herstellern in ganz Europa für sogenannte Botanicals verwendet, ohne dass deren Stichhaltigkeit bewiesen wäre.

Dabei sollte die Gemeinschaftsliste laut EU-Verordnung eigentlich bis Ende Januar 2010 verabschiedet sein. Doch im September desselben Jahres stoppte die Kommission die Prüfung durch die EFSA. Zur Begründung wurde auf die unterschiedliche Behandlung von Pflanzenpräparaten und -extrakten in den nationalen Rechtsvorschriften verwiesen.

Bionorica hakte nach – und erhielt eine alles andere als zufriedenstellende Antwort: Bionorica wisse doch, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten und Interessengruppen Bedenken angemeldet hätten und dass man daher einen „Reflexionsprozess“ eingeleitet habe. „Der Kommission ist bewusst, wie wichtig diese komplizierte Angelegenheit sowohl für die Verbraucher als auch für die Wirtschaftsteilnehmer ist. Um die benötigte beste Vorgehensweise finden zu können, sollten der Kommission jedoch die Zeit und der Kontext zugestanden werden, die hierfür erforderlich sind.“

So wollte sich Bionorica nicht abspeisen lassen und zog vor das Europäische Gericht (EuG). Im September 2015 wurde die Untertätigkeitsklage allerdings abgewiesen: Die Richter unterstellten Bionorica, selbst ein Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln zu sein und von der Übergangsregelung zu profitieren. Außerdem habe die Firma nicht nachgewiesen, tatsächlich einen finanziellen Nachteil erlitten zu haben.

Der EuGH als Berufungsinstanz scheint der Sache mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Generalanwalt Bobek hat verstanden, dass Bionorica zugelassene pflanzliche Arzneimittel vertreibt und unter dem Wildwuchs leidet. Vor allem in Ländern wie Italien und Großbritannien werden viele pflanzliche Präparate grundsätzlich als Nahrungsergänzungsmittel vermarktet, was für die Hersteller billiger, für die OTC-Branche aber schlecht ist.

Der Wettbewerbsnachteil ist laut Bobek aber noch kein Grund, um eine Untätigkeitsklage anzustrengen. Denn um zu vermeiden, dass die Eurokraten in ihrer Arbeit permanent von unzufriedenen Bürgern und Unternehmen belästigt werden, gibt es zwei Bedingungen, die für eine Klage erfüllt sein müssen: Ein Rechtsschutzinteresse hat nur, wer selbst durch eine Änderung einen eigenen Vorteil erlangt. Und zulässig ist die Klage nur, wenn eine unmittelbare Betroffenheit besteht.

Klingt irgendwie ähnlich, doch laut Bobek ist diese Differenzierung „mehr als eine rein intellektuelle Übung“: Während sich der erste Filter verhindern soll, dass Klagen in vermeintlichem Allgemeinwohlinteresse erhoben werden, soll der zweite bewirken, dass Richtersprüche nicht wirkungslos verpuffen.

Also macht sich Bobek ans Werk: Bionorica sei kein Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln, weiß Bobek, sondern „im benachbarten Markt der pflanzlichen Arzneimittel tätig“. Das schließe aber nicht aus, dass schärfere Auflagen dem Unternehmen nützlich sein könnten: Je nach Ausgang der Prüfung eines bestimmten Health Claims würde entweder den Wettbewerbern das Leben schwer gemacht oder Bionorica die Möglichkeit eröffnet, selbst auf Nahrungsergänzungsmittel umzusteigen.

Die Frage der Zulässigkeit war laut Bobek etwas schwieriger zu beantworten. Untätigkeitsklagen sind laut EU-Verordnung nur möglich, wenn das Unternehmen Adressat einer Regelung oder „unmittelbar und individuell“ betroffen ist. Beides trifft laut Bobek auf Bionorica nicht zu – immerhin gelten Health Claims für alle Hersteller.

Doch es gibt im EU-Recht noch die Möglichkeit, gegen Gesetzgebung vorzugehen. Hier waren die Klagemöglichkeiten vor einigen Jahren erweitert worden um „Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“. Laut Bobek lässt sich dieser Fall auch auf den Bereich der Untätigkeitsklage übertragen, da diese seiner Meinung nach ein „verhältnismäßig bescheidenes Ziel verfolgt, nämlich die Bekämpfung eines institutionellen Verharrens“.

Damit war der Fall für Bionorica aber immer noch nicht gewonnen, denn als OTC-Hersteller wäre Bionorica laut Bobek von Änderungen bei den Health Claims nämlich nur indirekt betroffen. Am Ende überzeugte den Generalanwalt ausgerechnet die rein theoretische Erwägung, dass Bionorica bei günstigen Health Claims ja selbst auf Nahrungsergänzungsmittel umsatteln könnte. Dass das Unternehmen bislang in dem Bereich nicht aktiv ist, spielt laut Bobek keine Rolle. Auch sei es nicht Aufgabe des Klägers, einen finanziellen Schaden konkret nachzuweisen.

So setzte sich Bionorica ganz am Schluss doch noch durch. „Es gibt viele Nahrungsergänzungsmittel, die mit irreführenden Werbeaussagen und nicht wissenschaftlich belegten Wirkversprechen Fachleute und Verbraucher an der Nase herumführen“, sagt Firmenchef Professor Dr. Michael Popp. „Hinsichtlich ihrer Sicherheit und Qualität gibt es Bedenken. Gleichwohl erwecken diese Nahrungsergänzungsmittel den Anschein, als handele es sich um richtige Arzneimittel. Und leider dürfen sie auch so auftreten.“

Hersteller pflanzlicher Arzneimittel, die wie Bionorica den Evidenznachweis ihrer Präparate erbrächten und viel Geld in die Forschung und Zulassung investierten, würden entschieden benachteiligt. „Mein Anliegen ist deshalb, dass gesundheitsbezogene Angaben der Nahrungsergänzungsmittel, wie vom europäischen Gesetzgeber auch vorgesehen, wissenschaftlich bewertet werden müssen, um vermarktet werden zu dürfen.“

Da man der Auffassung sei, dass auch die EU-Kommission selbst sich an europäisches Recht halten müsse und nicht europarechtlich vorgegebene Verfahren für gewisse Industriezweige im Lebensmittelbereich nach Gutdünken einfach aussetzen könne, habe man geklagt. „Dass der Europäische Gerichtshof nun auf Grundlage der für uns positiven Schlussanträge des Generalanwalts in unsere Richtung aktiv wird, begrüße ich sehr“, so Popp.

Bobek lässt keinen Zweifel, dass das Verfahren zu Ungunsten der EU-Kommission ausgehen muss. Bionorica ist der einzige von mehreren Hersteller, der in Luxemburg erfolgreich war. Eine parallele Klage von Diapharm hält Bobek nicht für zulässig: Der Zulassungsdienstleister aus Münster hatte geltend gemacht, durch den Trend hin zu Nahrungsergänzungsmitteln massiv an Aufträgen zu verlieren. Das sei aber eben nur eine indirekte und keine direkte Betroffenheit, so Bobek.

Dr. Willmar Schwabe, zuletzt immerhin in Deutschland gegen Drogerie-Ginkgo erfolgreich, war mit seinem Verfahren bereits im vergangenen Jahr aus dem Rennen geflogen – in Karlsruhe hatte man auf die unangemessene Dauer des Verfahrens abgestellt. Hier hatte der EuGH der Brüsseler Behörde aber weiten Ermessensspielraum zugestanden.

Und das Bibelzitat? In einem Anflug von Vorwitz hatte sich die EU-Kommission im Verfahren zu der Behauptung verstiegen, sie sei ja gar nicht untätig gewesen: Immerhin habe man das Schreiben von Bionorica beantwortet. Die allgemein gehaltene Aufforderung, sich zu gedulden, sei aber keinesfalls als behördliche Stellungnahme zu werten, konterte Bobek. An das Ideal „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“ aus dem Matthäus-Evangelium müsse Brüssel in seinen Mitteilungen nicht gleich heran reichen. Aber man müsse sich schon „direkter und unmissverständlicher“ äußern und dürfe es nicht dem Empfänger überlassen, den Inhalt zu erraten und zu seinen Ungunsten auszulegen.