„Besonders verwerfliche Gesinnung“

Pfusch-Apotheker: Die Urteilsbegründung

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Berlin -

Im Falle des verurteilten Pfusch-Apothekers Peter Stadtmann liegt nach vier Monaten die Urteilsbegründung des Landgerichts Essen (LG) vor. Die Ausführungen auf knapp 1600 Seiten zeigen in deutlichen Worten, welche ethische Verkommenheit die Richter dem Pharmazeuten für seine Taten zusprechen. Die juristische Bewertung einzelner Sachverhalte – insbesondere der strafmildernden – bleibt hingegen für viele Laien schwer zu verdauen.

Es ist einer der größten Medizinskandale der Nachkriegsgeschichte: Über mindestens fünf Jahre hinweg soll Stadtmann als Inhaber der Alten Apotheke in Bottrop Sterilrezepturen für schwer kranke Patienten gestreckt haben, um sich, wie es im Urteil heißt, „selbst ein Luxusleben zu finanzieren und sich in seiner Heimatstadt als Gönner und Wohltäter aufzuspielen“. Verurteilt wurde er zu zwölf Jahren Haft wegen Betrugs in 59 Fällen und vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz (AMG) in rund 14.500 Fällen. Außerdem erhielt er ein lebenslanges Berufsverbot. Der Fall geht jetzt zum Bundesgerichtshof (BGH).

Die Urteilsbegründung des LG Essen zeichnet ein drastisches Bild des Apothekers: das eines Mannes nämlich, der für Geld und Anerkennung buchstäblich über Leichen geht und dann, als er auffliegt, auch noch mehr schlecht als recht versucht, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Eine besonders verwerfliche Gesinnung“ habe der Verurteilte und sich „bei seinen Straftaten, motiviert durch Profitgier, nicht von möglichen gesundheitlichen Auswirkungen auf mitunter schwerstkranke Patienten abhalten lassen“, so die Richter.

Die befragten Zeugen hätten anschaulich dargestellt, „dass das Leben des Angeklagten vom Streben nach materiellem Besitz, aber auch dem Präsentieren dieses Besitzes geprägt war“. Erkennen konnte man das demzufolge am Bau seiner Luxusvilla auf einem 18.000 Quadratmeter großen Grundstück, über die auch in den Medien ausgiebig berichtet worden war, sowie an hohen Ausgaben für Alltagsgüter wie Kleidung, großzügige Geschenke und hohe Spenden an gemeinnützige Einrichtungen. Rund die Hälfte des Umsatzes von zuletzt 40 Millionen Euro der Apotheke mit 90 Mitarbeitern entfiel auf den Bereich der Sterilherstellung.

Besonders der lange Tatzeitraum und seine systematische Vorgehensweise haben sich in den Worten der Richter strafschärfend ausgewirkt. „Der aufgewendete Wille war erheblich“, heißt es da. „Nahezu jeder Tag innerhalb von fünf Jahren war von seinem kriminellen Tun geprägt; das Unterdosieren von Arzneimitteln war buchstäblich das erste, was der Angeklagte morgens noch vor dem Frühstück tat.“ Bereits ab 2001 habe er das Sterillabor aufgebaut, damals gehörte die Apotheke noch seiner Mutter. Laut Urteilsbegründung hatte er stets die alleinige und komplette Kontrolle in diesem Bereich. Auch seine sonstige Kaltschnäuzigkeit hat offenbar zum Strafmaß beigetragen, denn obwohl bereits 2014 in einem Strafverfahren gegen ihn ermittelt wurde, panschte er laut Urteil weiter Zytostatika.

Es gibt jedoch auch einzelne Punkte, die das Gericht als strafmildernd beurteilt – und die vor allem für einige Opfer und deren Angehörige schwer zu verstehen sein dürften. „Die Taten selbst sind ihm durch mangelnde Aufsicht der Behörden leicht gemacht worden“. Das spreche für ihn. Außerdem entstehe „im Laufe einer Tatserie [...] überdies regelmäßig ein Gewöhnungseffekt, der die Hemmschwelle für das Fortsetzen des Tuns senkt“. Und nicht zuletzt bestehe für die gestreckten Zubereitungen, die die Polizei am Tag der Razzia im November 2016 bei ihm sicherstellte, nur der Tatbestand der Herstellung gefälschter Arzneimittel, nicht der des Inverkehrbringens. Sie wurden nicht an Patienten abgegeben – die Polizei hatte sie schließlich konfisziert.

Und damit noch nicht genug: Auch dass er in „geringen Maße gesteigert haftempfindlich“ sei, spreche für ihn – und das obwohl er „gegenüber dem Sachverständigen Prof. Schiffer [Professor Dr. Boris Schiffer, Anm. d. Red.] wörtlich angegeben hat, er fühle sich in der Haft in der JVA Wuppertal-Vohwinkel wie in einer ‚Kloster-Reha-Maßnahme‘“. Die Kammer allerdings habe das „in diesem Zusammenhang ganz außer Acht gelassen“, denn: „Dabei handelt es sich selbstverständlich nur um eine Momentaufnahme.“

Auf immerhin drei Seiten wird auch das Berufsverbot behandelt, das gegen den ehemaligen Inhaber der Alten Apotheke verhängt wurde. Dieses sei zum Schutze der Allgemeinheit unerlässlich, denn: „Im Hinblick auf die Vielzahl der dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten, sein systematisches Vorgehen und den langen Tatzeitraum ist die Kammer von der Gefahr weiterer erheblicher Rechtsverletzungen durch den Angeklagten überzeugt.“ So habe er bereits gezeigt, „dass er für die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse nicht davor zurückschreckt, die Gesundheit anderer Menschen in Gefahr zu bringen, für die er aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Apotheker und Patient eine besondere Fürsorgepflicht hatte.“

Laut Gericht spielt bei der Verhängung des Berufsverbots auch die Tatsache eine Rolle, dass er nach der Haftentlassung voraussichtlich vor dem finanziellen Ruin steht. Denn der von ihm verursachte finanziellen Schaden für die Krankenkassen wird eingezogen: 17 Millionen Euro. „Um seinen gewohnten Lebensstil fortzusetzen zu können, bedürfte der Angeklagte dringend weiterer finanzieller Mittel.“ Was er bereit ist, dafür zu tun, hat er bereits hinreichend bewiesen. Nach Verbüßung der Haftstrafe wird Stadtmann voraussichtlich noch mehrere arbeitsfähige Jahre vor sich haben, „jedoch hebt dies seine Gefährlichkeit gerade nicht auf, sondern begründet sie“.

Von Bedeutung ist für das Berufsverbot auch, dass „das Apothekengebäude nebst der vollausgestatteten Apotheke“ nach wie vor in Familienbesitz ist. Deshalb sei auch nicht auszuschließen, „dass der Angeklagte durch eine bloße Verpachtung oder sonstige Überlassung, durch eine Übertragung des Gebäudes oder einen Erbfall – der Angeklagte ist das einzige Kind seiner Eltern – erneut in die Position des Inhabers einer Apotheke gelangen könnte“. Auch eine Position als angestellter Apotheker wäre in diesem Kontext denkbar – ein weiteres Argument für das Berufsverbot. Die Alte Apotheke gibt es als solche nicht mehr, im Juni – einen Monat vor Urteilsverkündung – hatte eine Apothekerin, die zuvor bei einem Bekannten Stadtmanns angestellt war, den Betrieb als Pächterin übernommen und in City-Apotheke umfirmiert.

Allein 30 Seiten nehmen die beiden Gutachten ein, mit denen festgestellt werden sollte, ob Stadtmann schuldfähig war. Seine Verteidiger hatten sich nämlich darauf berufen, dass er seit einem häuslichen Sturz im Jahre 2008 schwere Hirnschädigungen infolge eines Schädel-Hirn-Traumas erlitten habe und deshalb den Umfang und die Tragweite seiner Taten nicht richtig einschätzen konnte – also nur eingeschränkt schuldfähig war. Wochenlang hielten sich die Richter deshalb mit den beiden Sachverständigen auf – um dann zum Schluss zu kommen, dass so eine Beeinträchtigung nicht gegeben ist.

Und das, obwohl Stadtmann einem der beiden zufolge noch versucht hat, bei den Untersuchungen zu betrügen: „Denn bei dem von ihm selbst durchgeführten Tests – so der Sachverständige Schiffer – habe der Angeklagte nicht ordnungsgemäß mitgewirkt, sondern den Versuch unternommen, ein besonders schlechtes Abschneiden vorzutäuschen.“ Statt auf den Versuch hereinzufallen, kam Schiffer nach insgesamt 16-stündiger klinischer Beobachtung aber zu dem Urteil, dass Stadtmanns Fähigkeit zu logischem, kritischem und abstraktem Denken „völlig intakt“ sei – es bleibt deshalb also keine andere Erklärung für seine Taten als die reine Gier nach Profit und Ansehen.

Dabei wurde Stadtmann nur für einen Bruchteil der Fälle verurteilt, für die er angeklagt worden war: Insgesamt hatte er zwischen 1. Januar 2012 und 29. November 2016 erst im Labor über der Apotheke und dann einige Monate lang in neuen Räumen im Keller auf der gegenüberliegenden Straßenseite 61.980 Zubereitungen hergestellt und zum überwiegenden Teil an Ärzte ausgeliefert. Bei mindestens 14.498 sah es das Gericht als erwiesen an, dass er sie bewusst unterdosiert hat. Dabei setzten die Richter nicht die nach pharmazeutischen Standards akzeptierte Differenz von 10 Prozent an, sondern stuften auch Abweichungen von 20 Prozent zur verordneten und auf dem Etikett ausgewiesenen Menge noch als akzeptabel ein.

Da nicht jeder Fall einzeln nachgewiesen werden konnte, wurden eingekaufte und abgerechnete Wirkstoffe abgeglichen. Das Gericht ging dann zugunsten Stadtmanns davon aus, dass möglichst viele Zubereitungen wie vorgeschrieben hergestellt wurden – es hat die Zahl der Verstöße unter der Annahme berechnet, dass in ihnen gar kein Wirkstoff enthalten war. Gehe man davon aus, dass „nur“ gestreckt wurde, käme man auf eine höhere Anzahl betroffener Zubereitungen, so die Richter. Die Zahl derjenigen, für die er verurteilt wurde, ist hingegen die Differenz aus der Zahl der Zubereitungen, die er mit den eingekauften Wirkstoffen ordnungsgemäß hätte herstellen können, und der Zahl der Zubereitungen, die er tatsächlich hergestellt hat.

Rechtlich hat die Kammer diese Fälle gewürdigt als „vorsätzlichen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz durch Herstellen und Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die durch Abweichung von den anerkannten pharmazeutischen Regeln in ihrer Qualität nicht unerheblich gemindert und die gefälscht waren“. Als Arzneimittelfälschungen gelten die Stadtmann-Zubereitungen schlicht deshalb, weil sie falsch deklariert waren: Es war nicht das drin, was drauf stand. Außerdem wurde er in 59 Fällen wegen Betrugs verurteilt: Er habe die gepanschten Zubereitungen mit den Krankenkassen abgerechnet, „obwohl im bewusst war, dass die jeweiligen Kostenträger in Kenntnis des wahren Sachverhalts keine Zahlung geleistet hätten“. „Er wollte sich damit zur Befriedigung seines privaten Finanzbedarfs erhebliche Vermögensvorteile sichern, von denen er wusste, dass er auf sie keinen Anspruch hatte.“

Für Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit – also Körperverletzung, Totschlag oder Mord – wurde er hingegen nicht verurteilt. „Die Kammer konnte insoweit keine hinreichenden Feststellungen mit dem für eine Verurteilung erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit treffen“, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. Ebenso wenig habe man feststellen können, dass er „damit rechnete und es in Kauf nahm, dass aufgrund der Unterdosierung ein konkreter Patient sterben oder sich sein Leben verkürzen oder er in Lebensgefahr geraten würde“.

Außerdem sieht es die Kammer als erwiesen an, dass er die „überwiegende Anzahl“ der 14.564 unterdosierten Zubereitungen selbst hergestellt hat – und zwar vor 6.45 Uhr, nach 16 Uhr oder an Wochenenden. Demnach hatte er einen Schwerpunkt auf hochpreisigen monoklonalen Antikörpern. Das Vier-Augen-Prinzip beachtete er nicht; in der Anklage war von Verstößen gegen Hygienevorschriften die Rede gewesen. Doch nicht nur Stadtmann war im Fadenkreuz der Ermittler. Zwei PTA, die in der Alten Apotheke beschäftigt sind, stehen ebenfalls im Verdacht, an den Verbrechen mitgewirkt zu haben. Die Ermittlungen gegen sie dauern an, wie die Staatsanwaltschaft Essen auf Anfrage mitteilt – der Skandal ist also noch nicht vorüber.

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