Pharmahandelskonzerne

Pessina privat

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Berlin -

Stefano Pessina ist der wichtigste Mann im weltweiten Pharmahandel. Knapp 13.000 Apotheken tanzen nach seiner Pfeife. Formal wurde Alliance Boots durch Walgreens übernommen, doch faktisch hat der 74-Jährige beim ersten globalen Apothekenkonzern die Macht. Über den Privatmann ist kaum etwas bekannt. Die wenigen verfügbaren Informationen zeichnen einen Charakter, der alles dem großen Lebensziel unterordnet.

Seine außergewöhnliche Karriere hat Pessina gewissermaßen dem Zeitgeist zu verdanken. Nach dem Studium der Nukleartechnik in Mailand geht er zunächst in der Wissenschaft. Doch in den 1970er Jahren wird Kernenergie zunehmend unpopulär, also kehrt Pessina seinem Beruf den Rücken. Nach einem Zwischenstopp beim Marktforschungsunternehmen AC Nielsen steigt er 1973 auf Bitten seines Vaters Oreste in das Familienunternehmen ein: eine Pharmagroßhandlung in Neapel.

Ein wichtiges Lebensmotto bekommt er mit auf den Weg: „Wirf einen Ball und lauf ihm nach. Wenn Du ihn eingeholt hast, wirfst Du ihn weiter.“ Zum unersättlichen Ehrgeiz kommt eine zweite Eigenschaft, die ihn an die Spitze bringt: die Bereitschaft, sein Unternehmen mit anderen zu teilen, um es so zu mehr Größe zu bringen. Sentimentalitäten sind ihm diesbezüglich fremd: „Früher oder später werden Familienunternehmen durch die Erben zerstört“, sagt er 2007 im Interview mit Il Sole 24 Ore. „Wenn ich nicht immer wieder den Kapitalmarkt angezapft und meinen Anteil verwässert hätte, wären wir heute nicht halb so groß.“ Heute gehören ihm 16 Prozent an WBA und das Vertrauen der Hedgefonds und Investoren.

Und schließlich: Er ist gerissen genug, sich mit den Richtigen zu verbünden und Mehrheiten gegen die Falschen zu organisieren. Allianzen sind das Prinzip Pessinas, wobei der Begriff bei ihm eine andere Bedeutung hat: Erst umarmen, dann einverleiben – nach diesem Motto brachte es Pessina zum globalen Marktführer.

Obwohl Pessina mit dem Pharmagroßhandel anfangs nicht viel am Hut hat, kommt ihm gerade der Quereinstieg zugute. Sein technisches Verständnis kann er nutzen, um die Warenbestände zu optimieren. So arbeitet er schnell profitabler als seine Konkurrenten, durch Übernahmen und Fusionen steigt er zu einem der bedeutendsten italienischen Großhändler auf. Im wirtschaftlich schwachen Süden der 1970er Jahre hat er leichtes Spiel: „Manche waren sogar so verzweifelt, dass sie mir ihre Firma geschenkt haben“, erklärt Pessina rückblickend.

So einfach hat er es später nicht mehr. Weil er geräuschlos arbeitet und zurückhaltend wirkt, wird er aber insbesondere im Ausland lange unterschätzt. Er spricht leise und mit italienischem Akzent, ist immer elegant gekleidet, in einem konservativen italienischen Stil, aber ohne jede Spur von Extravaganz. Er gibt sich schüchtern: Auf Gruppenbildern steht er oft am Rande oder in der letzten Reihe.

Zwar kündigt er schon 1997 in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ an, dass er der „König der Arzneimittel“ werden will. In welchen Dimensionen er dabei denkt, ahnt damals aber niemand. Heute räumt er ein: „Ich habe immer geglaubt, dass insbesondere das Großhandelsgeschäft Global Player benötigt, weil die Pharmaindustrie global aufgestellt ist. Ich war überrascht, dass der Markt keinen globalen Pharmahändler hat.“

Mittlerweile ist klar, dass Pessina kein Land zu weit weg, kein Markt zu exotisch ist. Als Konkurrenten wie Celesio noch vorsichtig ihre Fühler nach Brasilien ausstrecken, eröffnet der Italiener bereits Boots-Filialen im Nahen Osten, in Thailand und in China. Ihm geht es um Präsenz und Größe. Seine Vision ist mittlerweile „kristallklar“ zu erkennen. Die Frage ist, welcher Schritt als nächstes kommt und was er mit seinem „Vermächtnis“ vorhat, wenn er irgendwann doch die Verantwortung abgegeben muss.

Geld spielt für ihn nach eigenem Bekunden eine untergeordnete Rolle. Er strebt danach, Werte zu schaffen – und nach Macht. Der Italiener sieht sich als Architekt, sowohl seines Unternehmens, als auch der Pharma- und Apothekenmärkte insgesamt. Seine Schritte folgten stets der Logik; allerdings gibt er zu, dass er bei so mancher Entscheidung in der Vergangenheit auch schon „zocken“ musste. Nur weil er langfristig interessiert sei, habe ihm die Finanzkrise nichts anhaben können, die nach der Übernahme von Alliance Boots zur Unzeit über ihn und seine Partner hereingebrochen sei.

Dass sein Vorgehen auch kritisch gesehen wird, weiß er. „Erst später realisieren die Menschen, dass ich womöglich doch nicht so falsch gelegen habe.“ Offene Ansagen sind daher seine Sache nicht. Er liebt es zu changieren und beherrscht geradezu meisterhaft die Kunst der Tarnung. Er sei kein Fan von Apothekenketten, über die Umbenennung der Anzag sei noch nicht entschieden und man sei nicht angetreten, um in Deutschland ein Kostensenkungsprogramm zu starten, blufft Pessina 2010 im Interview mit APOTHEKE ADHOC.

Grundsätzlich spricht er selten mit Journalisten – und zwar nur dann, wenn es ihm und seinem langjährigen PR-Berater aus taktischen Gründen sinnvoll erscheint oder wenn es nicht zu vermeiden ist. Als im Führungsvakuum nach der Übernahme der Anzag die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohten, meldete er sich zu Wort: Der deutsche Markt sei irrational, die Globalisierung führe dazu, dass man vernünftiger arbeiten könne, diktiert er dem Handelsblatt.

Dass er – zumindest kommissarisch – im Alter von 74 Jahren bei Walgreens Boots Alliance (WBA) den Vorstandsvorsitz übernommen hat, hat Beobachter überrascht. Normalerweise zieht er in der zweiten Reihe die Strippen, weil er dort seine Macht viel besser entfalten kann. Noch vor einem Jahr erklärt er gegenüber dem London Evening Standard, er habe keinerlei Ambitionen auf den Chefposten – immerhin sei Walgreens-Chef Greg Wasson ja auch 20 Jahre jünger als er.

Wenige Monate und mehrere Auseinandersetzungen später muss Wasson seinen Hut nehmen. Dass bislang keiner der Abservierten nachgekartet hat, ist wohl dem goldenem Handschlag zu verdanken, mit dem sich Pessina in der Regel von seinen Geschäftspartnern verabschiedet.

Bei aller Verschlagenheit ist Pessina charmant und smart, ein exzellenter Netzwerker und knallharter Verhandler, der dann zu Hochform aufläuft, wenn Andere Feierabend haben. Er hat ein enzyklopädisches Wissen über die Unternehmen, ihre Finanzen und Schlüsselstrategien, er denkt global und arbeitet rund um die Uhr. Und er ist ausdauernd: Auf die Fusion mit Boots arbeitet er fünf Jahre lang hin, bevor er den Deal auf seiner Yacht vor Sardinien besiegeln kann. Bei der Anzag liegt er sogar fast zehn Jahre in Lauerstellung.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, kann es aber auch schnell gehen. Die Vertreter von KKR wollte er nach eigenem Bekunden anfangs überhaupt nicht treffen. Doch die US-Finanzinvestoren überzeugen ihn Anfang Februar 2007 bei einem Treffen in Paris, die richtigen Partner für ihn zu sein. Vier Wochen später steht das Vorhaben, Alliance Boots nur ein Jahr nach der Fusion von der Börse zu nehmen. Die Konzernchefs werden überrascht.

Echtes Vertrauen genießen bei Pessina nur eine Handvoll Führungskräfte, mit denen er in einem Büro versteckt über einer Boots-Filiale in der Londoner Oxford Street seit Jahren zusammenarbeitet. Seine wichtigste Partnerin ist Ornella Barra, die das weltweite Großhandelsgeschäft verantwortet. 1986 verkauft ihm die Apothekerin die von ihr gegründete Großhandlung „Di Pharma“; seitdem ist sie beruflich wie privat die Frau an seiner Seite.

Verheiratet ist Pessina allerdings mit einer Anderen: Kurz vor dem Ende seines Studiums lernt er 1964 in Mailand Barbara kennen – 18 Jahre alt, Philosophie-Studentin im ersten Semester. Beide kommen aus gut betuchten Familien und fühlen sich verbunden. Sie ist eine Cousine des berühmten Architekten Richard Rogers. 1971 wird in Venedig geheiratet, doch nach der Geburt der beiden Kinder Elena (1975) und Jacopo (1980) kühlt sich das Verhältnis ab.

Während seine Frau in einer palastartigen Wohnung in Mailand die beiden Kinder groß zieht, tourt Pessina erst durch Italien, später durch Europa und die ganze Welt. Seine Besessenheit für die Arbeit wird zum Keil für die Ehe, 1993 kommt es zur einvernehmlichen Trennung. Auch wenn er nur selten vorbei sieht, unterstützt er seine Familie. Weihnachten wird bis 2005 gemeinsam verbracht, seine Kinder bekommen eine erstklassige Ausbildung. Elena wird PR-Beraterin bei der Großagentur Publicis in Paris, Jacopo Banker in London. Im Februar 2014 holt Pessina seinen Sohn ins Unternehmen.

Eine Scheidung lehnt Pessina grundsätzlich ab, als Katholik thematisiert er sie überhaupt nicht. „Er hat mich nie darum gebeten“, sagt seine Ehefrau 2007 in ihrem einzigen Interview. „Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen und ich würde es hassen, dies zu ruinieren.“ Er sorge für sie, räumt sie ein, sie habe ihn nie um etwas bitten und nie arbeiten müssen.

Dass sie überhaupt mit der Presse spricht, ist vermutlich vor allem eine Warnung an ihren Ehemann. Dessen Sprecher hat kurz zuvor in großer Runde erklärt, man wisse nicht, ob Barbara überhaupt noch lebe. Die Antwort kommt öffentlich, denn Öffentlichkeit ist das, was Pessina am wenigsten will. Normalerweise wird jede Indiskretion mit sofortiger Verbannung bestraft. „Sehe ich etwa tot aus“, fragt die damals 60-Jährige aufbrausend und erlaubt sich auch den Hinweis, dass Pessina deutlich an Gewicht zugelegt habe, regelrecht fett geworden sei. Das sei aber auch kein Wunder, denn er treibe keinen Sport, sondern esse viel und trinke Rotwein, aber keinen Champagner, weil er den nicht vertrage.

Pessina selbst sagt über sich: „Ich habe eine schöne Kunstsammlung, ich mag das Segeln und ich mag es, nur dazusitzen, nichts zu tun und nachzudenken.“ In seiner knapp bemessenen Freizeit lebt er in Monaco, in einem restaurierten Calais am Boulevard d'Italie, einem der größeren Anwesen mit einem wunderschönen Blick auf den Hafen und seine Yacht.

Den flämischen Malern aus dem 16.und 17. Jahrhundert fühlt er sich besonders verbunden, einen Teil seiner Sammlung soll er Fürst Albert zum Geschenk gemacht haben, als kleines Dankeschön für das Privileg der Einbürgerung – oder umgekehrt. Auch in der Boots-City Nottingham gilt er als Mäzen, was ihn freilich nicht daran gehindert hat, den Firmensitz in steuerlich günstigere Gefilde zu verlegen.

Sein geradezu zwanghaft anmutender Drang nach Steueroptimierung ist eines der großen Risiken in der Welt Pessinas. Luxemburg, Schweiz, Gibraltar, Cayman Islands – der Italiener weiß, welche geografischen Umwege er nehmen muss. Der Widerstand wächst, nach einem Treffen mit seinen wichtigsten Finanzpartnern im noblen Hotel „Vier Jahreszeiten“ in Paris werden im April 2014 Umzugspläne vorerst fallen gelassen.

Die zweite große Schwäche im WBA-Imperium ist womöglich die große Distanz zum operativem Tagesgeschäft. Es ist Barras Job, die Unternehmenskultur zu inszenieren. Sie gibt sich „bürgernah“. Als sie im Interview mit der Lebensmittel Zeitung (LZ) über das gute Miteinander und den regen Austausch mit den Mitarbeitern in den einzelnen Ländern fabuliert, platzt einem Mitarbeiter der Kragen: In den deutschen Niederlassungen sei sie nie gewesen, in der Zentrale habe sie in den vergangenen Jahren zweimal vorbei geschaut.

Dass sie 200 Angestellte getroffen habe, weil ihr der persönliche Kontakt wichtig sei, habe man in der Belegschaft mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen: Nach einem vorher festgelegten Drehbuch seien einige Floskeln ausgetauscht worden – ein echter Gedankenaustausch sei im Konzern nicht vorgesehen.

Archivbeitrag vom 18.04.2015

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