Apothekenpflicht hin, Fremdbesitzverbot her: Deutschland gehört zu den liberalsten Ländern, wenn es um die Selbstmedikation geht. Doch die Industrie braucht neue Produkte und drängt auf weitere OTC-Switches. Einige Nationen sind regelrechte Vorreiter, wenn es um die Entlassung von Wirkstoffen aus der Verschreibungspflicht geht.
132 Wirkstoffe sind laut dem EU-Pharmaverband AESGP in Deutschland nicht verschreibungspflichtig, das ist Platz 2 unter den EU-Mitgliedstaaten hinter Großbritannien (143). Was die Zahl der modernen Wirkstoffe angeht, liegt die Bundesrepublik sogar an der Spitze – gleichauf mit Schweden unter weltweit nur von Neuseeland übertroffen.
Die Herpesmittel Aciclovir und Penciclovir wurden 1993 beziehungsweise 2005 geswitcht, hier war Deutschland weltweit führend. Bei Famciclovir, dem Prodrug von Penciclovir, gab es 2014 keine Freigabe. Auch Naratriptan und Almotriptan waren bei der Freigabe 2006 beziehungsweise 2009 in keinem anderen Land rezeptfrei erhältlich; die Entlassung von Sumatriptan und Zolmitriptan scheiterte 2012 im Bundesrat aus formalen Gründen.
Ebenfalls führend war Deutschland bei Racecadotril, auch wenn das Antidiarrhoikum 2013 in Bulgarien schon rezeptfrei verfügbar war. Fluticason und Mometason waren zwar zum Zeitpunkt der Entlassung im vergangenen Herbst zwar schon in anderen Ländern rezeptfrei; in solcher Breite – Beclometason ist bereits seit Jahren ohne Rezept erhältlich – sind nasale Glucocorticoide allerdings nur in wenigen Ländern in der Selbstmedikation verfügbar.
Die Voraussetzungen für einen Switch sind in Deutschland sehr gut, gerade weil der Apothekenmarkt so streng reglementiert ist. In Ländern wie den USA landen OTC-Produkte fast immer in der Freiwahl oder sogar im Supermarkt. Der Vorschlag eines Expertengremiums, eine neue Kategorie einzuführen, scheiterte 2015.
Dazu kommt, dass der deutsche Markt eine Größe hat, die die Investitionen in einen OTC-Switch rechtfertigen. Auch die Möglichkeit, OTC-Medikamente zu bewerben, ist in Deutschland eine gute Voraussetzung. In Australien hatte die massive Werbung für Orlistat nach dem Switch im Jahr 2004 zu einem Mehrverbrauch geführt – seitdem sind die Möglichkeiten, Verbraucher auf neue Produkte aufmerksam zu machen, stark eingeschränkt. Allenfalls die fehlende beziehungsweise zu kurze Marktexklusivität von einem Jahr werten Experten hierzulande als kontraproduktiv.
In den vergangenen Jahren haben sich jedoch andere Nationen eine führende Stellung in Sachen OTC-Switches erarbeitet, allen voran Neuseeland. Das Land sei klein und eigne sich damit für Versuchsballons, sagt Dr. Natalie Gauld. Die Apothekerin hat zahlreiche Switches begleitet und die Folgen wissenschaftlich untersucht. Außerdem gebe es jenseits der Industrie interessierte Kreise wie Fachverbände und Apothekenketten, die das Thema aktiv besetzten und Anträge stellten.
2001 wurde die Pille danach aus der Rezeptpflicht entlassen, danach ging es Schlag auf Schlag: 2004 folgten Fluconazol und Orlistat, 2005 das hierzulande unbekannte Glucocorticoid Aclometason. 2006 kam mit Sumatriptan das erste Migränemittel in die Sichtwahl – und zur Überraschung der meisten Beobachter wurde sogar Oseltamivir unter strengen Auflagen aus der Rezeptpflicht entlassen.
2008 kam Omeprazol dazu, 2009 folgten Chloramphenicol, Famciclovir als Tablette und Zolmitriptan als Nasenspray. Weitere Switches waren Calcipotriol (2010), Trimethoprim (2012) und Sildenafil (2014) sowie die Impfungen gegen Cholera/ETEC (2011), Influenza (2012) sowie Meningokokken, Tetanus/Diphtherie/Keuchhusten und Windpocken (2013). Zuletzt wurde vor einem Jahr die Entlassung oraler Kontrazeptiva diskutiert.Die Ärzte sind allerdings dagegen.
Möglich wurden die Switches nicht zuletzt durch das Engagement der Apotheker: So dürfen die Produkte nur durch geschulte Apothekenmitarbeiter abgegeben werden, mitunter wird eine ärztliche Erstdiagnose gefordert. Die Packungsgrößen sind teilweise beschränkt. Tamiflu darf nur während der Grippesaison abgegeben werden, und zwar nur an Patienten ab 12 Jahren und nur, wenn erste Symptome vorliegen. Insgesamt funktioniert das System einer Umfrage zufolge gut.
Auch Großbritannien galt in den vergangenen Jahren als führende Switch-Nation, hier wurden unter anderem das Antibiotikum Azithromycin zur Behandlung von Chlamydien-Infektionen, das Prostatamittel Tamsulosin sowie der Lipidsenker Simvastatin aus der Rezeptpflicht entlassen. Auch hier müssen sich die Apotheken qualifizieren. In Kanada ist Lovastatin in der Selbstmedikation erhältlich. In den USA können Patienten mit hyperaktiver Blase Oxybutynin-Pflaster in den Apotheken kaufen. Außerdem gibt es in einigen Staaten Kontrazeptiva ohne Rezept. In Australien ist Salbutamol bereits seit 1985 rezeptfrei erhältlich.
Die Erwägungen für OTC-Switches sind stets dieselben: einfacherer Zugang für die Patienten, mehr Kompetenz für die Apotheken, Entlastung der Ärzte und Einsparungen für die Krankenversicherungen. Doch nicht selten entwickeln sich geswitchte Produkte anders als erhofft. Wenn der Leidensdruck nicht groß genug ist, eine Krankheit also weitgehend symtomfrei erfolgt, verzichten Patienten genauso auf die Selbstmedikation wie wenn die Produkte teuer oder der Arztbesuch preiswert sind. Auch ein Preisverfall durch Generika lässt seitens der Industrie das Interesse an einem Switch sinken.
Jörg Wieczorek, Vorsitzender des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), rechnet trotzdem damit, dass es in den kommenden Jahren gravierende Veränderungen geben wird – von denen die Apotheken profitieren werden: „Der Kostendruck im Gesundheitswesen wächst, Ärzte werden weniger Zeit haben, um sich mit kleineren Erkrankungen zu beschäftigen. Daher sind OTC-Switches eine Chance für die Apotheken, sich mit einer aktiven Beratung und Empfehlung auch zu neuen, komplexeren Produkten zu profilieren. Aus meiner Sicht sind solche Medikamente in der Hand der Apotheker wunderbar aufgehoben.“
Ein nächster großer Trend könnten Potenzmittel werden. Nach dem Vorbild von Neuseeland wurde in Polen im vergangenen Jahr Sildenafil aus der Rezeptpflicht entlassen. Verbraucher können das das Potenzmittel MaxOn (Sildenafil) erwerben, wenn sie 25 Fragen beantworten. Für Apothekenmitarbeiter wurde ein spezielles Schulungsprogramm aufgelegt. 2008 hatte der Viagra-Hersteller Pfizer den OTC-Switch bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) beantragt, war aber beim Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) auf Bedenken gestoßen und hatte den Antrag zurückgezogen.
Der US-Pharmakonzern Lilly indessen arbeitet gemeinsam mit dem französischen Hersteller Sanofi daran, das Präparat Cialis (Tadalafil) aus der Rezeptpflicht zu holen. Sanofi erwarb 2014 die Rechte, um für Cialis eine OTC-Zulassung in den USA, Europa, Kanada und Australien zu beantragen, sowie die exklusiven Vermarktungsrechte für die Länder.
Bayer hat beim australischen Gesundheitsministerium einen Antrag eingereicht, um sein Potenzmittel Levitra (Vardenafil) aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Vardenafil soll in oralen Zubereitungen mit 10 mg oder weniger von bisher Schedule 4 (verschreibungspflichtig) in Schedule 3 (Abgabe nur durch einen Apotheker) geshiftet werden. Die maximale Packungsgröße für die Rezeptfreiheit sollen acht Dosiereinheiten sein.
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