Am Anfang war die Orthomol-Garage Carolin Bauer, 24.03.2016 09:18 Uhr
Am Münchener Flughafen besiegelten Dr. Kristian Glagau und sein Kompagnon Dr. Hans Dietl den Plan, orthomolekulare Produkte in Deutschland zu vertreiben. Trotz Gegenwind aus der Schulmedizin wuchs ihre Firma Orthomol vom Betrieb in der Garage zu einem Unternehmen mit heute 400 Mitarbeitern. Die Mikronährstoffe in den blauen Verpackungen sind mittlerweile als Marke in zahlreichen Apotheken etabliert. Der Marktführer feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen.
Anfang 1991 steht Glagau plötzlich auf der Straße. Zwei Jahre lang hat er als Geschäftsführer für Medice gearbeitet, doch wie er später zu Protokoll geben wird, kam er mit der Familie nicht zurecht. Durch Zufall trifft er genau in diesem Moment Dietl wieder. Die beiden kennen sich von Fresenius: Glagau war im Marketing, Dietl auf der technischen Seite für Sonden- und Trinknahrung zuständig.
Was er denn vorhabe, will Dietl wissen und präsentiert die Idee, orthomolekulare Medizin nach Deutschland zu bringen. Der Ansatz, hochdosierte Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente zur Prävention von Krankheiten einzusetzen, ging auf den Nobelpreisträger Linus Pauling zurück und war in den USA bereits kommerziell erfolgreich. Dietl selbst hat sich aufgrund einer Herzerkrankung tief in die Materie eingearbeitet.
Glagau ist dabei – immerhin haben auch andere Pharmamanager sich bereits erfolgreich selbstständig gemacht: Kuno Lichtwer (Lichtwer) etwa oder Glagaus ehemaliger Kollege von Schwarz Pharma, Dr. Karl-Georg Mothes (Biomo). Die Rollen sind klar verteilt: Glagau soll sich um den Vertrieb kümmern, Dietl ist der Tüftler, der die Produkte entwickelt und die regulatorische Seite betreut. Von Hause aus Chemiker, hat Dietl sich schon in den 1970er Jahren als Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln selbstständig gemacht – das Geld, das er mit dem Verkauf der Firma erlöst hat, ermöglicht ihm ein sorgenfreies Leben. Auch Glagau kann sich dank der großzügigen Abfindung seines früheren Arbeitgebers die Investition leisten.
Im August 1991 sind sich die beiden Partner einig. An Dietls großzügigem Wohnsitz in Bad Aibling wird das gemeinsame Unternehmen Orthomol gegründet. Glagau wiederum schafft im Wohnhaus seiner Familie in der Poststraße im nordrhein-westfälischen Langenfeld Platz. Auf etwa 14 Quadratmetern muss die Ware, die von Lohnherstellern geliefert wird, gelagert, konfektioniert und verpackt werden.
Er habe Glagau immer und immer wieder ins Souterrain gehen sehen und sich gewundert, was er dort eigentlich mache, erinnerte sich später ein Nachbar. „Bill Gates von Langenfeld“ wird der Unternehmer wegen der unkonventionellen Anfangsjahre in Keller und Garage später im Ort genannt. Heute arbeiten die Mitarbeiter an drei Standorten über ganz Langenfeld verteilt.
Am ersten Tag sitzt Glagau in seinem Büro und wartet auf Anrufe. Dann klingelt tatsächlich das Telefon – es ist aber nur die Tochter, die sich nach dem aktuellen Stand erkundigen will. Dann rollt das Geschäft tatsächlich an: Mit 14 verkauften Packungen erzielt Orthomol die ersten Einnahmen in Höhe von 650,59 D-Mark. Konfektioniert wird von Hand, anschließend wird die Ware zur Post gebracht. „Alle haben geholfen, meine Mutter als Sekretärin, meine Schwester und ich bei der Verpackung und dem Versand“, erinnert sich Nils Glagau, Sohn des Firmengründers und heutiger Firmenchef. Und: „Ich war sehr stolz auf meinen Vater, dass er so mutig war.“
Kurz nach der Gründung werden die ersten beiden Mitarbeiter im Außendienst eingestellt, die noch heute für das Unternehmen tätig sind. Zu den ersten Produkten, anfangs noch in weißer Verpackung, gehören Orthomol immun, Orthomol cor und die beiden Varianten von Orthomol vital. Bei den Schulmedizinern sei der Ansatz zunächst nicht auf Begeisterung gestoßen, sagt Glagau. „Wir haben am Anfang einen Spießrutenlauf erlebt.“
Doch Glagau und Dietl glauben fest daran, dass sich Ärzte mit wissenschaftlichen Fakten überzeugen lassen. In seiner Doktorarbeit hat sich der Wirtschaftswissenschaftler mit der arztgestützten Empfehlung im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel auseinander gesetzt; Dietl gibt 1994 das „Handbuch der Orthomolekularen Medizin“ heraus. Wie sich zeigt, haben die beiden Partner die richtigen Produkte im Gepäck.
Für Ärzte, die mehr als nur empfehlen wollen, bietet das Unternehmen frühzeitig eine Produktlinie an: Über das 1995 gegründete Tochterunternehmen Orthomed werden Nahrungsergänzungsmittel in praxisparallelen Instituten vertrieben. Inhalte und Preise der Präparate sind nahezu identisch, allerdings macht der Bereich bis heute nur einen kleinen Teil des Umsatzes aus.
Mitte der 1990er Jahre wird mit knapp 40 Mitarbeitern ein Umsatz rund 7,5 Millionen D-Mark erwirtschaftet. Eigentlich hatten Glagau und Dietl vor, die Firma bei einem Umsatz von 3 Millionen D-Mark gewinnbringend zu verkaufen. Doch davon ist keine Rede mehr, Orthomol ist gar zu erfolgreich.
2001 übernimmt Glagau die Firma komplett. Sein Kompagnon ist kurz zuvor verstorben, Frau und Sohn verkaufen die geerbten Anteile. Nun ist Orthomol ein echtes Familienunternehmen – was der Firma später hilft, den schwersten Schicksalsschlag zu überstehen: Am 10. September 2009 verstirbt Glagau völlig überraschend, wenige Tage vor seinem 66. Geburtstag. Seine Frau Marion, sein Sohn sowie seine Tochter Gesche und ihr Mann Michael Hugger treten die Nachfolge an der Unternehmensspitze gemeinsam an. „Mein Vater hat nicht erwartet, dass ich Orthomol übernehme“, sagt Nils Glagau, der die Firma heute gemeinsam mit dem technischen Geschäftsführer Dr. Michael Schmidt leitet. „Aber ein Verkauf kam für unsere Familie nicht in Frage.“
Dem schweren persönlichen Verlust zum Trotz, bricht für Orthomol wirtschaftlich die bislang erfolgreichste Zeit an: Der Umsatz springt im selben Jahr um 20 Prozent und erreicht 2011 den Rekordwert von 84 Millionen Euro. Zwischen 2009 und 2011 werden im Gesamtunternehmen Gewinne von rund 22 Millionen Euro eingefahren – nach Steuern.
Doch 2012 brechen die Erlöse wieder auf 72 Millionen Euro ein, der Gewinn liegt bei 900.000 Euro. Parallel gerät das Unternehmen juristisch unter Beschuss: Im Frühjahr 2013 treffen plötzlich Abmahnungen wegen vermeintlich unzulässiger Produktangaben ein – nicht nur in Langenfeld, sondern auch bei Apotheken. Orthomol muss weite Teile seines Sortiments zurückrufen und einigt sich schließlich per Vergleich mit den Angreifern.
Zeitgleich streitet das Unternehmen auch noch mit dem Finanzamt. Die ergänzenden bilanzierten Diäten wurden in der Vergangenheit als Lebensmittel eingestuft und entsprechend mit 7 Prozent besteuert. Doch 2011 stufen Betriebsprüfer die Produkte plötzlich als Arzneiware ein, die mit 19 Prozent zu versteuern ist. Weil der Streit vor Gericht zugunsten des Fiskus ausgeht, muss Orthomol für die Jahre 2008 bis 2012 insgesamt 11 Millionen Euro nachzahlen.
Dem Erfolg der Produkte schaden die Streitigkeiten nicht. Vom Umsatz von zuletzt rund 80 Millionen Euro entfallen 5 Millionen Euro auf das Arztgeschäft, weitere sechs Millionen Euro werden im Ausland erwirtschaftet. Insgesamt werden rund 20 verschiedene Präparate in acht verschiedenen Darreichungsformen angeboten.
Um sich breiter aufzustellen, bringt Orthomol 2014 eine Linie für Veganer und 2015 die Marke Quickcap auf den Markt. Die Vitalstoff-Drinks können individuell befüllt werden und sind – nach der 2012 eingeführten Marke O'Vet für Tiere – die erste Produktlinie unter komplett neuer Dachmarke. Jüngster Neuzugang im Orthomol-Sortiment ist Nemuri – ein medizinisch angehauchtes Heißgetränk-Granulat für den Abend, das unter anderem Melisse und Hopfen enthält.
Um das Interesse der Patienten an den hochpreisigen Produkten aufrecht zu erhalten und gleichzeitig eine Abwanderung in den Versandhandel zu verhindern, setzt Orthomol auf ein spezielles Marketing in der Offizin: In 25 Apotheken wird eine Display-Stele „Holoco“ getestet, bei der Kunden auf holographischen Displays Informationen vermittelt bekommen. Außerdem gibt es immer wieder Probepackungen und Zugaben.
Nils Glagau ist das einzige Familienmitglied, das noch im Unternehmen aktiv ist. Der heute 40-Jährige hat Ethnologie studiert mit Schwerpunkt auf Altamerikanistik. In Mittelamerika hat er die Maya-Kultur erforscht. Obwohl er mit seinem Beruf und seinen Zwillingen stark ausgelastet ist, macht er sich so oft es geht auf die Reise, um nach historischen Artefakten zu suchen. Seine Schwester ist Psychologin und hat sich mit „Hofheimat“ ganz der Reitpädagogik verschrieben. Ihr Mann ist Musikproduzent in Düsseldorf („MusicMakingPeople“), von ihm stammt der Quickcap-Song. Die Mutter schaut als „gute Seele“ regelmäßig im Unternehmen vorbei.