Ein zwölf Jahres altes Rabattmodell einer niederländischen Versandapotheke, die es seit zehn Jahren nicht mehr gibt. Eigentlich schien der Streit des Bayerischen Apothekerverbands (BAV) mit der späteren DocMorris-Tochter Wellsana nur noch historischen Charakter zu haben. Doch ausgerechnet dieses scheinbar unauffällige Verfahren bietet nun die Chance, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Rx-Boni aus dem Jahr 2016 zu revidieren. Denn das Oberlandesgericht München (OLG) hat auf 64 Seiten akribisch zusammengetragen, warum die Rx-Preisbindung dem Schutz der Gesundheit dient und nicht gegen Europarecht verstößt. Auch die aktuellen Entwicklungen wurden berücksichtigt, sodass nun ein klarer Leitfaden für die weitere Aufarbeitung des komplexen Themas vorliegt.
Laut OLG verstoßen Rx-Boni nicht nur gegen die frühere Regelung nach § 78 Arzneimittelgesetz (AMG), sondern auch gegen die neue Vorschrift nach § 129 Sozialgesetzbuch (SGB V). Die vom EuGH geäußerten Zweifel an der europarechtlichen Wirksamkeit der deutschen Arzneimittelpreisvorschriften seien unter Berücksichtigung des Vortrags der Parteien und der Stellungnahme der Bundesregierung ausgeräumt.
Schon die 2012 eingeführte Rabattsperre nach AMG war laut Urteil dazu bestimmt, den Preiswettbewerb zwischen EU-ausländischen Versandapotheken und inländischen Vor-Ort-Apotheken zu regeln. Damit diente sie der Regelung des Marktverhaltens zum Schutz der Verbraucher und sonstigen Marktteilnehmer.
Der EuGH habe die bundesdeutschen Regelungen der Arzneimittelpreisbindung „nicht per se für europrechtswidrig erklärt, sondern nur mangels hinreichend substantiierten Vortrages zur Rechtfertigung“, so das OLG. So habe der EuGH festgestellt, dass die Notwendigkeit einer flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung nicht mit den notwendigen Beweisen untermauert worden sei. „Insbesondere sei nicht dargetan worden, inwiefern durch die Festlegung einheitlicher Preise für verschreibungspflichtige Arzneimittel eine bessere geografische Verteilung der traditionellen Apotheken in Deutschland sichergestellt werden könne.“
Dieses Defizit aufzuarbeiten, hat sich das OLG ganz offensichtlich zum Ziel gemacht. Denn gerade weil im EuGH-Verfahren die Argumente nur unzureichend dargelegt worden seien, müsse es dem BAV – als damals nicht einmal beteiligter Partei – unbenommen bleiben, „zu belegen, dass hinreichende tatsächliche Gründe gegeben sind, um die im Streit stehende Arzneimittelpreisbindung zu rechtfertigen“. Letztlich habe es der EuGH dem zuständigen nationalen Gericht überlassen, „eine nationale gesetzliche Regelung mit Hilfe der ihm vorgelegten Beweismittel objektiv daraufhin zu überprüfen, ob sich diese mit Blick auf die behaupteten Rechtfertigungsgründe als hinreichend tragfähig erweisen“.
Genau diesen Versuch unternimmt das Gericht, in dem es sich ausführlich mit Argumenten für die Preisbindung auseinander setzt. Grundsätzlich hätten die Mitgliedstaaten nämlich einen weiten Spielraum bei der Frage, wie sie ihre Gesundheitssysteme ausgestalten wollten. Und aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung ergebe sich dann zwangsläufig, dass Gerichte diese Einschätzungen auch respektieren müssen.
Wörtlich heißt es dazu: „Steht dem demokratisch legitimierten nationalen Gesetzgeber – was im Bereich der Gesundheitspolitik [...] der Fall ist – ein Gestaltungsspielraum zu, ist bei der zivilgerichtlichen Kontrolle auch aus dem Grund eine nur eingeschränkte richterliche Überprüfung geboten, weil der parlamentarische Entscheidungsprozess im Rahmen eines wie in der Bundesrepublik Deutschland nach gegenwärtigem Stand fraglos verwirklichten demokratischen Staatssystems als solcher bereits eine grundlegende Gewähr dafür bietet, dass die unterschiedlichen Interessen zur Sprache kommen und dem repräsentativ-demokratischen Willensbildungsprozess entsprechende legislative Entscheidungen unter Berücksichtigung dieser Interessen und alternativen Regulierungsszenarien getroffen werden.“
Diese sogenannte Einschätzungsprärogative dürfen allerdings nicht ins Blaue hinein erfolgen, sondern müsse sich bei der Prüfung daran messen lassen, dass die streitigen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels geeignet und gerechtfertigt sind. Dabei müsse man dem Mitgliedstaat auch zugestehen, dass er „dem Vorsorgeprinzip entsprechend Schutzmaßnahmen trifft, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar dargelegt sind“. Dies habe auch der EuGH selbst mittlerweile wieder berücksichtigt.
Laut Gericht ist die gesetzgeberische Entscheidung für eine Rx-Preisbindung nicht willkürlich erfolgt; verwiesen wird auf die Gesetzesbegründung sowie auf verschiedene wörtlich zitierte Plenarprotokolle aus dem Bundestag. Diese belegten, dass sich der Gesetzgebungsprozess nicht auf einen rein politischen Meinungsaustausch der beteiligten Abgeordneten beschränkte: „Vielmehr basierte die Meinungsbildung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Abgeordneten auf Basis der auch diesen bekannten wesentlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur Arzneimittelversorgung und den Implikationen eines zum Nachteil der nationalen Präsenzapotheken stattfindenden Preiswettbewerbs.“
Zurecht durfte der Gesetzgeber von einer abstrakten Gefahr für den Bestand der Arzneimittelversorgung ausgehen. Aus diversen Stellungnahmen, Studien und betriebswirtschaftlichen Analysen lasse sich die Sorge vor negativen Auswirkungen nachvollziehen.
„Dass Preiswettbewerb eine erhebliche Lenkungswirkung entfaltet, ist betriebswirtschaftlich anerkannt.“ Weiter heißt es: „Angesichts der Homogenität des Produkts Arzneimittel ist ein Anbieterwechsel von einer stationären zu einer europäischen Versandapotheke auch ohne weiteres möglich.“ Auch aus eigener Anschauung könne man beurteilen, dass in der Bevölkerung eine hinreichende Bereitschaft vorhanden sei, Arzneimittel im Wege des Versandhandels über das Internet zu bestellen.
„Ist aber das Geschäft mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln für den Betrieb einer Apotheke von grundlegender Bedeutung, ist die Annahme des Gesetzgebers nicht zu beanstanden, dass die Möglichkeit eines preisgünstigeren Erwerbs bei europäischen Versandapotheken eine erhebliche Lenkungswirkung entfalten und folglich dazu führen kann, dass Kunden ihnen ärztlich verschriebene Arzneimittel zunehmend bei entsprechend preisgünstigeren Anbietern erwerben.“
Auch aus den Geschäftszahlen von Zur Rose selbst lasse sich Wachstum des Versandhandels ableiten. Hinzu komme, dass laut Umfragen vor allem jüngere Menschen online kauften – und damit Grund zur Annahme besteht, dass sich die Entwicklung weiter verschärfen könnte.
„Stellt mithin eine Umsatzverlagerung von stationären Apotheken zu europäischen Versandhandelsapotheken nach allgemein wirtschaftlichen Erkenntnissen sowie nach der eigenen Einschätzung relevanter Marktteilnehmer ein greifbares Szenario dar, durfte der Gesetzgeber ferner auch annehmen, dass es zu weiteren Schließungen stationärer Apotheken und damit einer Beeinträchtigung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung kommen kann.“
Denn dass Preiswettbewerb durch Versender Verdrängungseffekte nach sich ziehe, stehe auch mit Blick auf die allgemein bekannten und vom BAV ausführlich und konkret dargelegten Marktentwicklungen im Bereich des Einzelhandels fest.
Insofern spiele es gar keine Rolle, dass es noch immer eine gute Versorgung mit Apotheken gebe. Einerseits sei bereits ein Rückgang zu beobachten, andererseits liege die Dichte unter dem Durchschnitt in Europa. „Im Lichte des unionsrechtlichen Vorsorgeprinzips ist der Gesetzgeber gerade nicht gehalten, mit Maßnahmen abzuwarten, bis sich die Gefahr für eine hinreichend sichere Arzneimittelversorgung durch einen tatsächlichen Rückgang von Apothekenbetriebsstätten beobachten und tatsächlich messen lässt.“
Bei der Interessensabwägung sei auch der „nachweislich besondere Beitrag stationärer Apotheken zu einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung“ zu berücksichtigen. „So bieten Präsenzapotheken nicht nur Nacht- und Notdienste und persönliche Beratungsleistungen an, sondern stellen auch patientenindividuelle Rezepturen bereit.“
Nicht entscheidend sei, ob „die dargestellten wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen Preisbindung einerseits und damit zusammenhängenden Handelsstrukturen andererseits zwingend sind, unumstößlich feststehen oder unbestreitbar sind“ oder ob auch andere Gründe wie der Fachkräftemangel eine Rolle spielen.
Vielmehr müssten die verschiedenen als möglich in Betracht kommenden Szenarien berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. „Zeigen sich aber nach wissenschaftlichen Erkenntnissen mögliche, aus Gemeinwohlsicht negative Entwicklungen, stellt dies ein als solches sachlich berechtigtes Abwägungskriterium dar, welches ein Mitgliedstaat im Rahmen des ihm zustehenden weiten Beurteilungsspielraums zur Erzielung des von ihm gewünschten Gesundheitsschutzniveaus berücksichtigen kann.“
Dass das OLG Düssseldorf zu einem anderen Ergebnis gekommen sei, spiele keine Rolle. Einerseits habe es sich um einen anderen Fall gehandelt, andererseits habe die Entscheidung viel zu kurz gegriffen, das sich überhaupt nicht mehr mit der Materie auseinandergesetzt habe. Insbesondere die Auskunft der Bundesregierung und die von den Parteien vorgelegten Unterlagen hätten viel mehr Licht in die Materie gebracht. „Daher sieht sich der Senat auch nicht gehindert, im Ergebnis von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf abzuweichen, nimmt unter anderem dies jedoch zum Anlass, die Revision zum Bundesgerichtshof zuzulassen.“
Wenn aber die alte Regelung nach AMG zulässig war, so muss es laut Gericht erst recht die neue Regelung sein, bei der ja zumindest im PKV-Bereich noch Rabatte gewährt werden dürfen. Dies habe die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme genauso unberücksichtigt gelassen wie die Tatsache, dass das E-Rezept mittlerweile verpflichtend eingeführt worden sei: „Infolgedessen konkurrieren EU-Versandapotheken nunmehr unmittelbar mit den Präsenzapotheken, sodass bislang beim Marktzugang zum Nachteil von EU-Versandapotheken bestehende Marktzutrittshindernisse mit der Einführung des E-Rezepts mithin entfallen sind.“
Eine zunehmende Marktanteilsverschiebung zugunsten der EU-Versandapotheken stelle daher mittlerweile ein realistisches Szenario dar. Zum Beweis führt das Gericht ausgerechnet die Kundenzahlen und aktuellen Umsatzprognosen von DocMorris an.
Und schließlich läuft laut Gericht die Zahlung von Boni an gesetzlich Krankenversicherte dem Solidaritätsprinzip zuwider: Die Kasse als Solidargemeinschaft zahle den gebundenen Preis, während das einzelne Mitglied in den Vorzug eines ihm persönlich gewährten Bonus käme. „Eine solche individuelle Begünstigung nur einzelner Mitglieder stünde aber gerade im Gegensatz zu der dem Gesamtsystem nach solidarisch konzipierten Finanzierungsstruktur.“
Eine solidarische Finanzierung lasse sich nur sicherstellen, wenn die Apotheken als maßgebliche Absatzmittler bei der Abgabe der verschreibungspflichtigen Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte gleichwertig entlohnt würden. „Die dementsprechend gebotene solidarische Entlohnung der Apotheken ist indes nicht mehr sichergestellt, wenn durch preisbezogene Anreize einzelner Apotheken die für sämtliche Apotheken zentral bedeutsame Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte auf bestimmte Apotheken umgelenkt wird.“
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