„Noweda-Nachschlag“ für Anzag-Aktionäre Patrick Hollstein, 02.11.2021 08:00 Uhr
Mehr als zehn Jahre ist es her, dass Alliance Boots – heute Walgreens Boots Alliance (WBA) – den Frankfurter Großhändler Anzag übernahm. Und noch immer beschäftigt der Fall hierzulande Gerichte. Kleinaktionäre der Anzag hatten gehofft, noch einen Nachschlag zu erhalten. Laut einem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt (OLG) steht ihnen tatsächlich eine Ausgleichszahlung zu.
Sieben Jahre lang hatte Stefano Pessina sich gedulden müssen, bevor er im Oktober 2010 endlich am Ziel war: Für 26 Euro je Aktie übernahm der von ihm gesteuerte Pharmahandelskonzern Alliance Boots ein Paket von knapp 52 Prozent an der Anzag. Bis dahin hatten Celesio, Phoenix und die Sanacorp jene Aktien gehalten, um dem unliebsamen Mitbewerber den Zutritt zum deutschen Markt zu versperren. Doch letztendlich zerbrach die Allianz gegen Alliance, Boots konnte die Mehrheit am Frankfurter Großhändler übernehmen.
Noch aber besaß Pessina nur knapp 82 Prozent der Anteile, das offizielle Übernahmeangebot in Höhe von 26,08 Euro hatten nur wenige weitere Anzag-Aktionäre angenommen. Um die für die Zwangsabfindung (Squeeze out) erforderliche Schwelle von 95 Prozent zu erreichen, kam es entscheidend auf die Pakete des niederländischen Großhändlers Mediq und der Noweda an. Die Genossenschaft aus Essen hatte Pessina schon im Dezember 2003 die ersten 19 Prozent der Anzag-Anteile für 61 Millionen Euro verkauft.
Tatsächlich meldeten wenig später sowohl Mediq als auch die Noweda, dass sie ihre Pakete verkauft hatten. An wen die Anteile gingen, wurde damals nicht bekannt gemacht: Seitens der Noweda hieß es kurz vor Weihnachten 2010, man habe die Aktien an der Börse verkauft, Mediq wollte die Identität des Käufers nicht verraten.
Bemerkenswert war der Kaufpreis in Höhe von 27 beziehungsweise 28 Euro je Aktie – an der Börse wurden die Anteile damals bereits in der Hoffnung auf ein erhöhtes Angebot für 29 Euro gehandelt. Und wie aus den jetzt veröffentlichten Gerichtsunterlagen hervorgeht, machten tatsächlich Risikoinvestoren mit den von Mediq und Noweda übernommenen Anteilen noch einmal richtig Kasse: Im Juni 2012 zahlte Alliance Boots für das rund 14-prozentige Aktienpaket einen Betrag von 32,72 Euro pro Aktie. Danach war der Weg frei, um die verbliebenen Aktionäre auszubezahlen: Ein halbes Jahr später wurde die Abfindung zu einem Preis von 29,02 Euro beschlossen. Die Anzag wurde von der Börse genommen. Später wurde der Traditionsgroßhändler in Alliance Healthcare Deutschland (AHD) umbenannt.
Zahlreiche Minderheitsaktionäre zogen vor Gericht, um die Angemessenheit der Abfindung überprüfen zu lassen. Sie argumentierten, dass mindestens 32,72 Euro zu veranschlagen seien, inklusive Marktrisikoprämie eigentlich bei 40 bis 50 Euro. Diese Forderung wies das OLG zwar in zweiter Instanz zurück. Aber WBA muss dennoch nachbessern und 3,70 Euro pro Aktie nachzahlen, insgesamt knapp 1,6 Millionen Euro. Der Konzern muss sogar die Gerichts- und Anwaltskosten für alle Aktionäre tragen, die nicht mehr als den für zulässig befundenen Übernahmepreis gefordert hatten.
Ausführlich erläutern die Richter, dass die Höhe der Abfindung zwar im Grundsatz im Ertragswertverfahren zu errechnen ist. Und hier sei im Zusammenhang mit dem Squeeze out auch alles mit rechten Dingen zugegangen. Allerdings könne im Einzelfall auch ein gezahlter Vorerwerbspreis berücksichtigt werden. „Dies insbesondere dann, wenn ein – etwaiger – Paketzuschlag ausgeschlossen werden kann.“ Dies sei hier der Fall, da beide Methoden zu einem ähnlichen Ergebnis führten.
Dabei sei zu beachten, dass ein Großaktionär unter Umständen mehr zu zahlen bereit sei, wenn er „mit den so erworbenen Aktien ein Stimmenquorum erreicht, das aktien- oder umwandlungsrechtlich Voraussetzung für bestimmte gesellschaftsrechtliche Maßnahmen ist“. Daher sei er dann auch bereit, einen „Paketzuschlag“ zu zahlen. „Aus der Sicht des Minderheitsaktionärs ist der vom Mehrheitsaktionär außerbörslich bezahlte (erhöhte) Preis nur erzielbar, wenn es ihm gelingt, gerade seine Aktien an den Mehrheitsaktionär zu veräußern. Darauf aber hat der Minderheitsaktionär weder verfassungsrechtlich [...] noch einfachrechtlich angesichts des Grundsatzes der Vertragsfreiheit einen Anspruch.“
Damit wurde die Entscheidung des Landgerichts Frankfurt aus dem Jahr 2014 bestätigt, wenn auch mit anderer Begründung.