Analyse

Noventi: Der Markt in Angst

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Berlin -

Noventi ist zu einem sehr schlechten Zeitpunkt in eine äußerst ungemütliche Situation geraten. Jahrelang hat sich das Rechenzentrum aufgeblasen, jetzt muss kontrolliert Luft abgelassen werden. Was es jetzt braucht, ist größtmögliche Transparenz. Denn der Markt hat Angst. Eine kommentierende Analyse.

Traditionell ein apothekereigenes Rechenzentrum, war die „Verrechnungsstelle der Süddeutschen Apotheke“ (VSA) über Jahre hinweg vor allem durch Zukäufe gewachsen. Zwar ging es in München schon immer etwas „großkopferter“ zu als bei der Konkurrenz. Aber im Grunde wusste man, dass man in erster Linie nur Dienstleister der Apotheken war. Das änderte sich, als die beiden langjährigen Vorstände Peter Mattis und Dr. Andreas Lacher ausschieden und Dr. Hermann Sommer an Bord holten, der damals noch – offenbar ungerechtfertigt – einen zweiten Dr. im Titel führte.

Unter Sommer blähte sich das Unternehmen auf. Aus der VSA wurde Noventi, erst als Doppelkonzern, dann als Aktiengesellschaft europäischen Rechts. Verwundert rieben sich manche Beobachter die Augen, dass das Unternehmen nun in die erste Reihe drängte, sich selbst als europäischen Marktführer sah. Anzeigen in der New York Times, Besuch beim Papst, Öko-Kampagnen mit einem CSU-Bundesminister, Sponsoring eines ATP-World Tour-Tennisturniers, Gestaltung einer FC Bayern-Apotheke – wohin wollte Noventi damit? Und vor allem: Wie bezahlte Noventi das alles? Immer stärker wurde Noventi hinter vorgehaltener Hand eine gewisse Großmannssucht attestiert. Dennoch galt der Platzhirsch als unangreifbar. Bis das saubere Image irgendwann erste Risse bekam.

Es begann mit Awinta One. Noventi hatte so viele Softwarehäuser zugekauft, dass die Arbeit für Entwickler kaum mehr zu bewältigen war. Doch statt des Befreiungsschlags kam die Bauchlandung: Weil die Anwender massiv unzufrieden waren, wurde die großangekündigte einheitliche Lösung aufgegeben. Nach Außen wurde derweil weiter so getan, als sei die Welt im Grunde zu klein für Noventi. Mit dem E-Rezept, so die Botschaft, werde ein neues Zeitalter anbrechen.

Einsparungen durch E-Rezept?

Warum ausgerechnet Noventi von der Abschaffung des Papierrezepts profitieren sollte, erklärte das Management allerdings nicht. Dabei ging es wohl vor allem darum, erhebliche Einsparungen etwa bei den Personalausgaben zu ermöglichen – Stichwort: Transformationsprogramm „Noventi 2022“. Diese Effekte waren offenbar fest einkalkuliert. Und so wurde weiter freimütig Geld für PR und Personal ausgegeben.

Als das Management dann Genussscheine ausgeben wollte, um die gröbsten Löcher zu stopfen, zeigte sich erstmals, in welcher Lage das Unternehmen eigentlich war. Nicht nur, dass die laufenden Kosten viel zu hoch waren. Auch strategisch hatte man sich in eine Abhängigkeit von Banken manövriert. Um die eigene Position als Abrechnungszentrum zu sichern, wurde das Factoring-Geschäft massiv forciert: Wer seinen Kunden Liquidität verschafft, kann sie gleichzeitig an sich binden, so die Logik. Vom Rechenzentrum zu einer Art Bank – die Weichen bei Noventi wurden bereits vor Jahren gestellt. Nicht umsonst wurde der ehemalige Vorstandschef der Apobank, Herbert Pfennig, an die Spitze des Aufsichtsrats bestellt.

Milliardenkredite bei Banken

Doch die Vorfinanzierung birgt nicht nur Ausfallrisiken, sie kostet vor allem Geld. Und hier werden die Verflechtungen offensichtlich: Ein Bankenkonsortium unter der Leitung der Apobank stellt mittlerweile ein Volumen von 1,333 Milliarden Euro bereit. Nach dem Rauswurf von Sommer und CFO Victor Castro stellt sich einmal mehr die Frage, wer bei Noventi derzeit das Ruder führt – und welche Interessen er vertritt. Die Apobank wiederum ist über das ARZ Haan und Dr. Güldener selbst im Bereich der Rezeptabrechnung aktiv.

Markt ist nervös

Über die Verfehlungen des früheren Vorstands sprechen Insider hinter vorgehaltener Hand mittlerweile ohne Zurückhaltung. Nur will keiner der Verantwortlichen etwas davon gewusst haben. Das erscheint unglaubwürdig und vor allen Dingen intransparent. Das ist schlecht, denn seit der AvP-Insolvenz ist der Markt mit Blick auf die Rezeptabrechnung absolut verunsichert und reagiert auf jede kleine Störung extrem nervös. Als Noventi selbst vor kurzem mit kleiner Verspätung auszahlte, bekam mancher Apotheker schon Schnappatmung.

Man muss hier klar unterscheiden: Noventi steht auch nach dem Abgang der beiden Vorstände finanziell solide da, jedenfalls gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass es anders ist. Und die AvP-Pleite war mutmaßlich die direkte Folge krimineller Machenschaften des Managements. Die aktuellen Probleme bei Noventi sind damit in keiner Weise zu vergleichen. Das nützt dem Markt allerdings wenig. Seit gestern spukt dieses Gespenst durch die Foren und Kommentarspalten. Und eben auch in den Köpfen vieler Eigentümer:innen, die sich fragen, ob sie bei Noventi tatsächlich gut aufgehoben sind.

Entscheidend wird jetzt sein, mit maximaler Transparenz Vertrauen zu schaffen. Aufgrund der bislang spärlichen Kommunikation ist die Tiefe des Problems bei Noventi für Apotheken aktuell nicht zu bemessen. Das ist gefährlich, denn eine Fluchtbewegung könnte zur selbsterfüllenden Prophezeiung und damit zum Problem für die gesamte Branche werden.

Noventi ist Marktführer und „too big to fail“, ein systemrelevantes Unternehmen im Abrechnungsmarkt. Bei zu viel Unruhe besteht die Gefahr, dass in der Politik grundsätzliche Zweifel am Gesamtkonstrukt der privatwirtschaftlichen Rezeptabrechnung aufkommen und über eine ganze große Reform nachgedacht wird.

Geschäftsmodell im Wandel

Mit der schrittweise anstehenden Umstellung auf das E-Rezept steht das Geschäftsmodell ohnehin vor einem Wandel. In dieser Phase wird bei Noventi die Unternehmensspitze wortkarg abgesägt, auch weil die Performance schon länger nicht stimmte.

Erstens: Die Umstellung auf das einheitliche Softwaresystem AwintaOne wurde abgeblasen. Synergieeffekte aus den Zukäufen konnten so kaum generiert werden, die Entwickler müssen an allen Systemen programmieren.

Zweitens: Die Plattform Gesund.de leidet unter der verschleppten Einführung des E-Rezepts, der Mehrwert für die Apotheken muss seit Monaten mehr herbeigeredet werden, als dass er sich in der Praxis zeigt. Die Apotheken wurden mit Gratismonaten bei Laune gehalten und selbst das mit wechselndem Erfolg. Statt eines zusätzlichen Standbeins ist das Projekt derzeit ein echter Kostenfaktor für Noventi. Das Projekt steht dem Vernehmen nach auf der Kippe.

Drittens: Mit den Genussscheinen wollte Noventi näher an die eigene Kundschaft heranrücken, einen Gemeinschaftssinn wie bei der Noweda beschwören. Angeblich war das aus den Reihen des Trägervereins FSA gewünscht worden. Doch die Apotheker:innen ließen „ihre“ Noventi hängen, der Start des Projekts floppte. Weniger als 5 Prozent des angepeilten Volumens kamen zusammen. Zum Vergleich: An der Börse werden schon 90 Prozent als Fehlleistung abgestraft. Der Fortgang ist ungewiss.

Viertens: Pompöse Marketingaktionen funktionieren nur, wenn es richtig gut läuft. Mit Gebührenerhöhungen vertragen sich solche Maßnahmen nicht besonders gut.

Fünftens: Noventi leidet so massiv unter dem Kostendruck, dass eine deutliche Preiserhöhung in allen Bereichen angekündigt wurde. Der direkt danach kommunizierte Abgang des Managements wirkt wie ein Bauernopfer.

Noventi täte gut daran, jetzt mit maximaler Transparenz aufzuräumen und einen Plan für die künftige Entwicklung vorzulegen. Und auch zu klären, wer abgesehen der nun geschassten Manager viel zu lange weggesehen, geduldet und genehmigt hat.

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